Schulalltag eines blinden Lehrers
Interview mit dem blinden Lehrer Sebastian Müller zum Thema Digitalisierung und Barrierefreiheit an der Schloss-Schule Ilvesheim.
Schulalltag eines blinden Lehrers
Interview mit Sebastian Müller, Lehrer an der Schloss-Schule Ilvesheim
Nachrichten zur Digitalisierung an Schulen erreichen uns in der jüngeren Vergangenheit geradezu täglich. Doch wie sieht es mit der Digitalisierung und Barrierefreiheit für sehbehinderte und blinde Kinder und Jugendliche aus? Sebastian Müller ist selbst blind und Lehrer an der Schloss-Schule Ilvesheim, ein Staatliches Sonderpädagogisches Bildungs- und Beratungszentrum. Er gibt uns Antworten auf Fragen zu diesen Themen aus seinem schulischen Alltag.
Die Vorbereitung und der Unterricht in Klassen mit sehbehinderten und blinden Kindern und Jugendlichen
1. Wie bereiten Sie Unterricht für Ihre Klassen vor? Was sind dabei Ihre wichtigsten elektronischen Hilfsmittel?
Die Unterrichtsvorbereitung läuft generell ähnlich ab wie an einer allgemeinbildenden Schule. Sie läuft fast ausschließlich über den Laptop, der mit Zusatzfunktionen ausgestattet ist. Es gibt eine Sprachausgabe, die Texte vorliest und eine Braillezeile. Dieses Gerät wird mittels USB-Anschluss an den Laptop angeschlossen und gibt den Text auf dem Bildschirm in Blindenschrift aus. Mithilfe der Kombination der Sprachausgabe und der Braillezeile, wird der Laptop bedient und Unterrichtsmaterial in digitaler Form erstellt.
Grafische Elemente wie Wirtschaftsgrafiken können nicht mithilfe dieser Hilfsmittel erkannt werden. Hierbei kommt dann eine Assistenzkraft zu Hilfe, die diese Aufgaben übernimmt.
2. Wie unterscheidet sich der Unterricht im Vergleich von sehenden zu blinden Klassen?
Der große Unterschied in der Unterrichtsvorbereitung besteht tatsächlich nur in der Digitalisierung. Jede Schülerin und jeder Schüler ab Klasse 5 hat einen speziell auf sie bzw. ihn zugeschnittenen Computer. Bei weniger sehbehinderten Kindern sind diese mit Schwenkarm und einer Vergrößerungs-Software ausgestattet. PCs für hochgradig sehbehinderte Schülerinnen und Schüler sind hingegen mit Sprachausgabe und Braillezeile ausgestattet.
Unterrichtsmaterial kann digital an die Klassen verteilt und dann von jeder Schülerin bzw. jedem Schüler individuell mit seinen Hilfsmitteln am eigenen PC bearbeitet werden.
In der Grundschule werden die Kinder langsam an diese Digitalisierung herangeführt und im Umgang mit den technischen Hilfsmitteln geschult.
3. Wie kann man sich ein Klassenzimmer vorstellen, in dem sehbehinderte und blinde Kinder unterrichtet werden? Gibt es hierbei für Sie als blinder Lehrer besondere Einrichtungen oder Vorrichtungen?
An den Wänden entlang, stehen in U- oder L-Form die Tische, auf denen die Schüler/-innen-PCs mit den entsprechenden Hilfsmitteln stehen. In der Mitte des Klassenzimmers steht ein großer Tisch, den wir für Gruppengespräche nutzen. Die Lehrkraft hat ihren eigenen PC, der mit einem großen Smart-TV verbunden ist. Alle PCs sind mit einem Klassenlaufwerk und einem Schullaufwerk verbunden. Die Klassengröße beträgt durchschnittlich zwischen 5 und 8 Kinder.
4. Wie unterscheidet sich der Lehrplan Ihrer Schule im Vergleich zu dem einer allgemeinen Haupt- bzw. Realschule?
Wir haben den ganz normalen Lehrplan der allgemeinbildenden Haupt- bzw. Realschule. Ergänzend dazu gibt es natürlich den Lehrplan für Sonderpädagogische Bildungs- und Beratungszentren (SBBZ), Schwerpunkt Sehen. Darin enthalten sind Bereiche wie Umgang mit technischen Hilfsmitteln, Orientierungs- und Mobilitätstraining wie Laufen mit einem Blindenstock, lebenspraktische Fertigkeiten wie das Zubereiten von Essen oder Schuhe binden.
Die Schülerinnen und Schüler der Schloss-Schule machen auch die allgemeinen Abschlussprüfungen der Haupt- und Realschulen an denselben Terminen wie sehende Kinder.
5. Können Sie an einem kurzen Beispiel schildern, wie eine normale Unterrichtsstunde abläuft?
Im Prinzip mache ich immer einen Startpunkt am Gruppentisch. Dort wird besprochen, was bis dahin gemacht wurde und was in dieser Unterrichtsstunde thematisch bearbeitet wird. Meistens geht es dann in die Arbeitsphase am PC über. Dort können verschiedene Arbeitsaufträge erarbeitet werden, bevor es dann weiter zu Einzel- oder Gruppenarbeiten geht. Der Abschluss der Unterrichtsstunde findet dann wieder am Gruppentisch statt. Hierbei werden die Ergebnisse der Stunde bzw. das Erlernte nochmals besprochen und eventuell einen kurzen Ausblick gegeben, wie es mit diesem Thema oder im Fach weitergeht.
6. Ein kurzes YouTube-Video des Senders einsplus, zeigt Sie beim Unterrichten einer Klasse mit sehenden Kindern. Damals hatten Sie eine Assistenzkraft an Ihrer Seite. Ist dies in der Schloss-Schule Ilvesheim auch so? Wenn ja, wie unterstützt diese Sie beim Unterrichten?
Die Assistenzkraft spielt eine wichtige Rolle sowohl bei der Unterrichtsvorbereitung als auch im Unterricht selbst. Sobald ich als Lehrkraft Unterstützung brauche, springt die Assistenzkraft ein. Dies können völlig unterschiedliche Tätigkeiten sein. Sie unterstützt mich bei der Unterrichtsvorbereitung, wenn ich auf Materialien stoße, die für mich nicht zugänglich sind. Im Unterricht selbst steht sie mir beispielsweise bei der Aufsicht bei Klassenarbeiten oder im Schulhof zur Seite. Dazu hilft sie bei der Erstellung von Elternbriefen und war auch mit im Landschulheim. Wichtig ist natürlich auch ihre Tätigkeit beim Digitalisieren von Schulbüchern für blinde Schülerinnen und Schüler. Der Wechsel der Assistenzkraft findet jährlich im Rahmen eines Freiwilligen Sozialen Jahres statt.
Fernunterricht an der Schloss-Schule Ilvesheim
7. Pandemiebedingt mussten die Schulen im Land im letzten, wie auch im aktuellen Jahr, auf Fernunterricht umstellen. Wie hat Ihre Schule das gemeistert?
Wir haben im Prinzip gleich von der ersten Woche im Homeschooling unsere Schülerinnen und Schüler erreicht. Da jeder einen PC mit Internetzugang und einen Schul-E-Mail hat und wir ein funktionierendes Online-System an der Schule haben, war dies tatsächlich fast problemlos möglich. Über Nextcloud laufen die Schul-Mails und auch der Schulkalender. Dazu haben wir in kürzester Zeit auch BigBlueButton genutzt. Wir haben allerdings recht schnell gemerkt, dass neun Stunden Online-Unterricht doch anders sind als Unterricht in der Schule. So haben wir Präsenzphasen im Netz mit Arbeitsphasen ohne Internet abgewechselt.
8. Können Sie kurz erläutern, welche Probleme es dabei gab? Vielleicht in technischer Hinsicht oder aus Sicht der Schülerinnen und Schüler?
Da die Digitalisierung bei uns eigentlich Standard ist, gab es so gut wie keine technischen Probleme. Die Umstellung aus Sicht der Schülerinnen und Schüler hat auch sehr gut geklappt. Sie haben alle zuhause eine gute technische Ausstattung. Spätestens ab Klasse 5, denn da wird diese Ausstattung für Hausaufgaben benötigt.
„Ganz wichtig ist, dass die Schülerinnen und Schüler merken, dass sie viel mehr erreichen können, als man ihnen möglicherweise zutraut.“
9. Wie nehmen Sie das Verhältnis zu Ihren ebenfalls blinden oder sehbehinderten Schülern wahr?
Aufgrund dessen, dass die Klassengröße deutlich geringer ist als in einer allgemeinbildenden Schule ist das Vertrauensverhältnis zwischen den Schülerinnen und Schülern und ihrer Lehrkraft sehr gut. Man kennt sich gegenseitig in und auswendig. Sorgen und Nöte, auch aus dem sozialen oder familiären Hintergrund der Schülerinnen und Schüler, kommen dadurch schneller zur Sprache.
10. Was versuchen Sie Ihren Schülerinnen und Schülern aus Ihren eigenen Erfahrungen heraus für ihr späteres Leben mitzugeben?
Ganz wichtig ist, dass die Schülerinnen und Schüler merken, dass sie viel mehr erreichen können, als man ihnen möglicherweise zutraut. Das betrifft auch den beruflichen Werdegang. Die Schloss-Schule Ilvesheim bietet deshalb ca. 15-20 AGs nach Unterrichtsschluss an. Viele Angebote wie beispielsweise Klettern, Triathlon oder Kochen sollen den Kindern zeigen, dass sie alles schaffen können, was sie erreichen möchten.
Herr Müller, vielen herzlichen Dank für das sehr spannende Gespräch!
Anja Würdinger
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