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„Das Wissen der Welt tragen die Schüler heute in der Hosentasche“

30 Jahre World Wide Web: Wie hat das Netz Schule und Unterricht, Lernen und Unterrichten verändert? Wir haben mit Micha Pallesche, dem Schulleiter der Ernst-Reuter-Schule in Karlsruhe gesprochen. Er hat neben seinem Lehramtsstudium auch Medienpädagogik studiert, war viele Jahre neben dem Lehrerberuf an das LMZ abgeordnet und promoviert seit 2012 an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg am Institut für Kunst, Musik und Medien im Bereich Mediendidaktik. Darüber hinaus entwickelt Pallesche zusammen mit Lehrkräften Medienkonzepte für interaktive Whiteboards und mobile Endgeräte, ist Mitglied einer Arbeitsgruppe des Forum Bildung Digitalisierung, die die Kultusministerkonferenz beim Prozess zur Strategie „Bildung in der digitalen Welt” unterstützt und dort auch als Programmbeirat tätig.

Herr Pallesche, wenn Sie Ihre eigene Schulzeit und die Ihrer Schülerinnen und Schüler heute miteinander im Hinblick auf den Einsatz von Medien vergleichen, wo liegt für Sie der größte Unterschied?

Früher wurden die Medien im Unterricht ausschließlich von den Lehrkräften bedient. Wir sprechen dabei beispielsweise vom Videoprojektor oder einem Rollenfilm. Heute sind die Medien, v.a. die digitalen Endgeräte, in Schülerhand. Am gravierendsten haben sich das Lernen selbst und die Lernsettings verändert: Da Schüler heute dauerhaft Zugriff auf das Internet haben und somit das Wissen der Welt quasi in der Hosentasche mit sich herumtragen, ist nicht mehr nur der Lehrer der alleinige Wissensvermittler. Wissen ist vielmehr jederzeit und an jedem Ort verfügbar. Die Schülerinnen und Schüler können sich dieses über die unterschiedlichsten Kanäle aneignen – seien es YouTube-Videos, Tutorials oder durch eine Recherche im Internet. Dabei benötigen sie wiederum Unterstützung und die entsprechenden Kompetenzen, um die Qualität von Wissen herausfiltern zu können. Der Medienkompetenz kommt damit eine viel höhere Bedeutung zu, als dies früher der Fall war.

Wie setzen Sie das konkret um?

An der Ernst-Reuter-Schule investieren wir viel Arbeit darin, dass die Schüler selbst Medien produzieren und sich auf diese Weise Medienkompetenz aneignen. Dafür benötigen wir andere Räumlichkeiten. Durch den Einsatz von digitalen Medien öffnen sich die Schulräume. Lernen ist mobil. Die Schüler müssen nicht in einem Klassenzimmer zusammensitzen, weil dort ein Lehrer steht, sondern sie können im Flur lernen, auf dem Hof oder an einem anderen Ort. Schule erhält dadurch viel mehr Flexibilität und hat andere Bedürfnisse. Wenn beispielsweise ein Schüler einen Erklärfilm produziert, ein anderer sich ein solches Video anschaut und ein dritter dabei ist, sich in die Software für die Videoproduktion einzuarbeiten, während der nächste darüber liest, dann funktioniert das nicht in einem Raum. Deshalb erleben wir an unserer Schule eine große Öffnung der Räume und des Unterrichtens. Wir haben dort viel weniger Phasen, in denen frontal unterrichtet wird, und einen sehr viel höheren Anteil an Selbstlernphasen.

Wenn das Wissen überall verfügbar ist, wie haben das Netz und die digitalen Medien die Entwicklung von Schule und Unterricht beeinflusst?

Als ich Student war, habe ich mir einen Brockhaus gekauft. Ich wollte das Wissen der Welt zuhause haben. Diesen gibt es heute als Buch aber nicht mehr, zumindest nicht in einer aktuellen Form. Denn Wissen ändert sich heute rapide. Es verdoppelt sich sogar alle paar Jahre. Wir vernetzen uns und unser Wissen im Internet, generieren dauernd neuen Content und haben Informationen sofort. Das wäre früher undenkbar gewesen. Der Lehrer muss deshalb eine andere Rolle einnehmen. Er ist eben nicht mehr der alleinige Wissensvermittler, der im Unterricht ein- oder zweimal Inhalte erklärt, sondern er hat heute einen Erklärfilm, den die Schüler anschauen können – auch mehrfach, ganz nach ihrem eigenen Bedürfnis. Sie können dabei Begriffe nachschlagen usw. Das ist gut, denn die zunehmende Heterogenität der Gesellschaft schlägt sich auch im Klassenzimmer nieder. Deshalb kommen wir gar nicht darum herum, uns über den traditionellen Unterricht Gedanken zu machen. Denn er passt einfach nicht mehr zu diesem Setting.

Was bedeutet das konkret für die Rolle des Lehrers?

Ein Lehrer unterrichtet heute weniger frontal, er ist, wie gesagt, weniger Wissensvermittler, dafür aber zunehmend in der Rolle eines Lernmanagers, eines Begleiters von Lernprozessen. Er plant Lernsettings und stellt diese seinen Schülern zur Verfügung.

Darüber hinaus sind wir als Lehrende durch die Digitalisierung selbst wieder zu Lernenden geworden. Das besondere daran ist auch, dass erstmals Wissen nicht von einer Generation an die nächste weitergegeben wird, sondern dass die Digital Natives, also die jungen Menschen von heute, die mit den digitalen Medien aufwachsen, sich in diesem Feld besser auskennen als die Erwachsenen. Wir müssen damit aufpassen, dass wir nicht von den Jüngeren überholt werden und von unseren Schülern lernen, wie die digitalen Medien überhaupt funktionieren.

Das heißt aber auch: Die Werte, die wir aus der analogen Generation kennen, müssen wir in eine digitale Ethik überführen und damit in diese neue Welt übertragen. Wir müssen den Schülern zeigen, dass es wichtig ist, auch mal offline zu sein, dass es nicht gut ist, immer viele Dinge parallel zu machen und sie eine Balance zwischen digital und analog finden müssen. Denn je mehr Bedeutung der digitalen Welt zukommt, umso wichtiger werden für unsere Schülerinnen und Schüler reale Erlebnisse. Und genau diese Erlebnisse müssen wir als Lehrer den Schülern vermitteln, damit sie diese nicht nur aus der digitalen Welt kennen. Wir müssen ihnen zeigen, was das Miteinander, das Zusammenkommen von Menschen ausmacht, wie wir unsere Werte leben. Solche Aufgaben werden für die Lehrkräfte in Zukunft immer mehr Raum einnehmen.
 

Wechseln wir die Seite und blicken zu den Schülerinnen und Schülern. Wie hat sich deren Welt des Lernens durch das Netz und die digitalen Medien verändert?

Ich würde sagen, dass es heute teilweise noch ein riesiger Unterschied ist, wie Schüler zuhause und wir sie in der Schule lernen. Daheim schauen sie im Internet nach, suchen Filme und Infos im Netz. Selten gehen sie in eine echte Bibliothek, aber sie vernetzen sich beim Lernen und teilen Inhalte. In der Schule ist es oftmals noch mehr wie bei uns früher, denn im traditionellen Schulsystem findet Lernen weitaus weniger vernetzt statt.

Schüler nutzen ihr Smartphone heute täglich, aber dessen wahres Potential nutzen sie nicht wirklich aus. Sie sind meist User, aber weitaus weniger die Produzenten von Lernwegen. Sie haben zwar einen angstfreien und vernetzten Umgang mit den digitalen Medien, nutzen diese als Werkzeug, was ihnen aber oftmals fehlt, ist die Kreativität, mit diesen Werkzeugen umzugehen und selbst Content zu erzeugen. Das wird und muss aber noch kommen.

Hat der Einsatz von digitalen Medien und des Internets im Unterricht denn Auswirkungen auf die Leistungsmotivation der Schüler?

Das Internet gehört heute zur Lebenswelt der Schüler. Daran muss ein guter Unterricht anknüpfen, dann steigt auch die Motivation. Dadurch, dass wir heute einen höheren Anteil an Selbstlernphasen haben, Schüler somit ihre eigenen Wege des Lernens beschreiten und sich für diesen Weg selbst entscheiden können, sind sie automatisch motivierter, als wenn der Lehrer ihnen diesen Weg einfach vorgibt. Die digitalen Medien und das Internet bieten somit mehr Freiheiten beim Lernen und das kann durchaus die Motivation fördern.

Man muss dabei jedoch beachten, dass es einen schmalen Grat gibt, wenn es darum geht, an das Vorwissen der Lernenden anzuknüpfen. Am besten klappt dies, wenn die Schüler an ihrem aktuellen Leistungsstand abgeholt und dann immer ein bisschen darüber hinaus gefordert werden. Durch die digitalen Medien haben wir die Möglichkeit, an den individuellen Leistungsstand der Schüler anzuknüpfen. Das ist besser als im traditionellen Unterrichtssystem, bei dem der Lehrer in etwa die Mitte des Niveaus einschätzen musste und damit einen Teil der Schüler über-, einen anderen unterfordert.

Wie würden Sie denn Ihre Schule, die Ernst-Reuter-Schule nach der Einführung digitaler Medien beschreiben?

Unsere Schule hat durch die Digitalisierung eine unglaubliche Öffnung und Veränderung der Haltung erlebt – so wie ich das bereits beschrieben habe. Ich halte allerdings wenig von Begriffen wie digitale Bildung oder Tabletklassen. Früher gab es ja auch keine Zirkelklassen, nur weil dort ein Zirkel als Werkzeug eingesetzt wurde.

Ich würde die Ernst-Reuter-Schule schon als post-digital bezeichnen. Denn wenn Sie unsere Schule besuchen, spüren Sie die große Offenheit als Geist der Schule sofort. Beispielweise stehen überall die Türen offen. Die Schüler lernen auf dem Flur und im Hof oder im Park. Sie arbeiten an den unterschiedlichsten Themen. Parallel haben wir die analoge Welt gestärkt, in dem wir sehr vernetzt mit unserem Quartier sind und die Schule auch in dieses geöffnet haben. Das heißt zum einen, dass Schüler eben auch im Park oder in der Bibliothek lernen, dass sie aber zum andere auch beispielsweise an eine benachbarte Grundschule gehen und dort ihr Wissen den jüngeren Schülern vermitteln. Gleichzeitig holen wir Experten von außen in unsere Schule oder die Nachbarn aus unserem Quartier. Wir haben beispielsweise ein Mehrgenerationencafé und eine Außenstelle unseres Ideenbüros im Mehrgenerationenhaus. Beide Welten sollen sich verbinden und tun dies auch. Konkretes Beispiel: Eine ältere Dame aus der Nachbarschaft wollte sich ein Smartphone kaufen. Sie kam mit ihrem Anliegen ins Ideenbüro und unsere Schüler haben sie beraten und sind mit ihr sogar in das Geschäft gegangen, um das Handy zu kaufen.

Erkennen Sie denn einen Wandel in der Medienkompetenz ihrer Schüler und Lehrkräfte?

Definitiv. Wir verzeichnen einen großen Zuwachs an Medienkompetenz und zwar sogar in der Form, dass wir gar nicht mehr explizit über Medienkompetenz sprechen. Denn diese ist für uns Alltag. Gleichwohl lassen wir unsere Schüler zu Schüler-Medienmentoren (SMEP) ausbilden, nutzen also das SMEP-Projekt des LMZ. Wir haben unsere Schüler-Medienmentoren sogar in ein festes Unterstützungssystem eingebaut, das das Kollegium buchen kann. Wenn beispielsweise eine Lehrkraft mit ihrer Klasse in den Zoo geht, dann bucht sie einen der Mentoren, der dann den Ausflug begleitet und einen Film dreht, diesen gemeinsam mit den Schülern der Klasse schneidet und ein Video produziert.

Abschließend die Frage: Welche Risiken birgt das Internet für die Schule bzw. die Schülerinnen und Schüler?

Der unendliche Raum an Wissen ist auch ein unendlicher Raum an Gefahren. Denken Sie nur an Fake News. Das ist gerade ja ein sehr aktuelles Thema. Deshalb müssen Schüler lernen, wie sie Fake News erkennen können. Sie müssen lernen, genau hinzuschauen. Dafür gibt es gute Programme und die digitalen Medien helfen auch hierbei. An unserer Schule produzieren die Schüler beispielsweise selbst Fake News, indem sie ein Video machen und ein Bild von sich selbst zwischen Trump und Putin stellen. So lernen sie, wie einfach das geht, und werden sensibilisiert, damit sie nicht alle Inhalte ohne Prüfung verwenden und konsumieren.

Gleiches gilt für den Umgang mit personenbezogenen Daten und den Datenschutz. Dass Jugendliche nicht alles von sich in den sozialen Netzwerken preisgeben, ist bei uns immer ein Thema. Denn das Internet vergisst nichts und das vermitteln wir auch unseren Schülern. Oder denken Sie an das Urheberrecht. Wenn unsere Schüler ein eigenes Schulbuch produzieren, sich dafür aus Internetquellen bedienen und selbst Inhalte ins Netz hochladen, dort aber zu sehen sind oder ihr Name unter dem Schulbuch steht, dann stellt sich ihnen automatisch die Frage, ob sie dafür auch geradestehen. Durch das reale Tun wird auch die Problemstellung für sie real.

Wichtig ist aus meiner Sicht: Durch Verbote oder zu extreme Kontrollen erreichen wir nur relativ wenig. Schule muss daher für Gefahren sensibilisieren und gleichzeitig all die positiven Dinge zeigen, die die digitalen Medien und das Internet ermöglichen. Sie muss für einen ebenso offenen wie (selbst-)kritischen Umgang damit sorgen. 

Eva Wiedemann

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