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Verschwörungstheorien in der Coronakrise – Interview mit Prof. Dr. Butter

Madeleine Hankele-Gauß
Porträt von Prof. Dr. Michael Butter, Professor für Amerikanistik an der Universität Tübingen

Prof. Dr. Michael Butter, Professor für Amerikanistik und Autor des Buchs „Nichts ist, wie es scheint: Über Verschwörungstheorien“ (2018) | Foto: Michael Butter

Nichts ist, wie es scheint

Prof. Dr. Michael Butter, Professor für Amerikanistik an der Universität Tübingen, beschäftigt sich bereits seit Langem mit Verschwörungstheorien. Mit seinem Buch „Nichts ist, wie es scheint: Über Verschwörungstheorien“ (2018) hat Butter den Forschungsstand zum Thema einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Wir haben mit ihm über Verschwörungstheorien in der Coronakrise gesprochen und darüber, was Schulen und Lehrkräfte konkret für die Prävention tun können. Das Interview bildet den Auftakt zum neuen Inhaltsbereich „Verschwörungstheorien“, der zu Beginn des Jahres 2021 veröffentlicht wird.

Prof Dr. Butter, warum „blühen“ seit Beginn der Coronapandemie Verschwörungstheorien? Oder kommt es uns nur so vor?

Ich glaube, das kommt uns nur so vor. Die ersten quantitativen Studien dazu deuten nicht darauf hin, dass jetzt mehr Menschen an Verschwörungstheorien glauben als vor der Coronakrise. Die meisten Leute aus dem Freundes-, Bekannten- oder Familienkreis, die sich jetzt zum ersten Mal „geoutet“ haben, haben bereits vorher an Verschwörungstheorien geglaubt. Sie wissen, dass das, was sie glauben, von den Menschen um sie herum im Normalfall nicht geglaubt wird. Entsprechend wollen sie auch nicht ständig anecken – im Sportverein, beim Ausgehen mit Freunden oder im Familienkreis – und behalten das für sich. In der Coronakrise ging es nicht mehr länger nur darum, was man in der Familie und unter Freunden ansprechen kann, sondern darum, ob man sich überhaupt mit ihnen treffen kann. Bei Menschen, die schon vorher an Verschwörungstheorien geglaubt haben, ist dieser Glaube stärker geworden und daher gehen sie damit nun auch vermehrt an die Öffentlichkeit.

„Wenn traditionelle Netzwerke stärker gegen Verschwörungstheorien vorgehen, führt dies zum Ausweichen auf andere Netzwerke“

Welche Verschwörungstheorien über das Coronavirus waren oder sind im Netz unterwegs?

In Deutschland haben sich seit Ende März vor allem Verschwörungstheorien darüber durchgesetzt, dass das Virus nicht existiert oder vollkommen ungefährlich ist. Entsprechend hängen Verschwörungstheoretiker*innen hierzulande dem Glauben an, dass die Coronakrise ein Betrug ist, der inszeniert wurde, um uns die Grund- und Menschenrechte wegzunehmen, um eine globale Impfpflicht einzuführen oder um uns das Bargeld wegzunehmen. Diese Überzeugungen vermischen sich auch manchmal. Ihr kleinster gemeinsame Nenner ist, dass sie sich gegen die offizielle Version richten. Anhänger*innen von Verschwörungstheorien glauben daher teilweise auch an zwei widersprüchliche Sachen, wie z. B., dass das Virus eine Biowaffe ist und dass es überhaupt nicht existiert.

In der Coronakrise haben insbesondere die Messenger Telegram und WhatsApp an Bedeutung gewonnen. Womit hängt das zusammen?

Das liegt daran, dass die traditionellen Netzwerke diesmal sehr viel schärfer gegen Verschwörungstheorien vorgegangen sind. Facebook und YouTube haben Meldungen, die Verschwörungstheorien enthalten, ja entweder gelöscht oder Warnhinweise angebracht. Der Bedeutungsgewinn von Telegram und WhatsApp zeigt allerdings, wie schwer sich die Verbreitung von Verschwörungstheorien eindämmen lässt: Wenn traditionelle Netzwerke stärker gegen Verschwörungstheorien vorgehen, führt dies zum Ausweichen auf andere Netzwerke. Grundsätzlich bin ich aber ohnehin der Meinung, dass die Meinungsfreiheit ein zu hohes Gut ist, um sie durch Löschaktionen seitens privater Firmen zu gefährden. Denn die Grauzone ist groß – gerade bei Verschwörungstheorien.

Gibt es Menschen, die besonders anfällig dafür sind, an Verschwörungstheorien zu glauben?

Menschen sind besonders empfänglich für Verschwörungstheorien, wenn sie sich machtlos fühlen und schlecht mit Unsicherheit und Ambivalenz umgehen können. Und welche Zeit könnte unsicherer sein als die Coronakrise, insbesondere im Frühjahr, als das öffentliche Leben zum Erliegen kam? Demografisch kann man Tendenzen ausmachen, zu denen es allerdings jede Menge Ausnahmen gibt. Das heißt, wir reden über eine höhere Affinität bestimmter Gruppen, was aber nicht bedeutet, dass andere Gruppen nicht betroffen sind. Wenn man sich Studien anschaut, stellt man fest, dass Männer, Menschen mit niedrigerem Bildungsgrad und ältere Menschen tendenziell empfänglicher sind für Verschwörungstheorien als Frauen, Menschen mit höherem Bildungsgrad und jüngere Menschen.

Viele Verschwörungstheorien lassen sich durch Fakten leicht entkräften. Warum ist es in der Realität dann doch nicht so einfach, Verschwörungstheoretiker*innen von ihrem Glauben abzubringen?

Verschwörungstheorien lassen sich durch Fakten natürlich sehr leicht entkräften. Das Problem ist nur, dass Verschwörungstheoretiker*innen sich davon nicht überzeugen lassen. Das ist aber nicht ungewöhnlich: Wie oft ist es Ihnen gelungen, in einem Gespräch jemanden, der zu einem Thema eine starke und Ihrer Meinung entgegenstehende Position hatte, von Ihrer Meinung zu überzeugen? Das kommt selten vor. Bei Verschwörungstheoretiker*innen kommt hinzu, dass an der Verschwörungstheorie ein großer Teil ihrer persönlichen Identität hängt. Wenn man nun die Verschwörungstheorie infrage stellt, stellt man gleichzeitig einen Teil ihrer Persönlichkeit infrage und setzt dadurch starke Abwehrmechanismen in Gang.

Sind Verschwörungstheorien aus Ihrer Sicht gefährlich? Wie sieht das in der aktuellen Coronapandemie aus?

Nicht alle Verschwörungstheorien sind gefährlich – nicht alle Verschwörungstheoretiker*innen sind gefährlich. In der Corona-Pandemie hat sich gezeigt, dass Verschwörungstheorien in dreierlei Hinsicht gefährlich sein können. Im medizinischen Bereich können Verschwörungstheorien dazu führen, dass man sich selbst und andere in Gefahr bringt, weil man medizinisches Wissen leugnet. Wer sagt, Corona ist harmlos oder existiert gar nicht, wird Hygiene- und Abstandsregeln als Blödsinn abtun. Verschwörungstheorien können auch ein Motor von Radikalisierung und Gewalt sein. Wenn Attila Hildmann zum Widerstand aufruft oder Ken Jebsen sagt, man müsse Bill Gates nur in den Arm fallen, dann sei der Spuk vorbei, geht das in diese Richtung. Zum Glück gibt es bislang nur Einzelfälle – Halle und Christchurch zum Beispiel –, bei denen Leute tatsächlich andere aufgrund von Verschwörungstheorien umgebracht haben. Ein dritter Aspekt ist die Gefahr von Verschwörungstheorien für die Demokratie. Da bin ich momentan deutlich entspannter als viele andere Beobachter*innen. Was wir derzeit auf den Straßen erleben, ist eine lautstarke und kleine Minderheit, deren Anhänger*innen von einer Demonstration zur nächsten reisen. Die Leute, die gemeinsam auf Demonstrationen gegen die Corona-Regierungspolitik gehen, können sich zwar strategisch sehr gut auf ein „Dagegen“ einigen. Auf ein „Dafür“ können sie sich aber überhaupt nicht einigen: Die einen wollen die direkte Demokratie einführen – die anderen wollen die Demokratie ganz abschaffen.

„Über historische Beispiele gelingt die Aufklärung sehr gut“

Was können Schulen als Ganzes und Lehrkräfte im Unterricht dafür tun, dass ihre Schüler*innen nicht auf Verschwörungstheorien „hereinfallen“?

Die effektivste Methode ist das sogenannte „Pre-Bunking“. Die Wahrscheinlichkeit, dass Menschen an Verschwörungstheorien glauben, sinkt rapide, wenn man sie im Vorhinein über die Argumente bestimmter Verschwörungstheorien, aber auch über deren Wirkungsweise im Allgemeinen aufklärt. Die Schule ist also ein wichtiger Ort, an dem Schüler*innen lernen können, wie Verschwörungstheorien funktionieren. Genauso wichtig ist es, Medienkompetenz darüber zu vermitteln, warum bestimmte Kanäle bestimmte Inhalte verbreiten. Wenn Kinder und Jugendliche außerdem ein Verständnis dafür erlangen, wie gesellschaftliche und politische Prozesse funktionieren, werden sie schnell erkennen, dass Verschwörungstheorien diesen nicht entsprechen.

Haben Sie einen konkreten Vorschlag für ein Unterrichtskonzept?

Über historische Beispiele gelingt die Aufklärung sehr gut. Im Anschluss an den Themenkomplex Französische Revolution könnte man sich zum Beispiel mit der Verschwörungstheorie beschäftigen, dass angeblich die Illuminaten sie ausgelöst hätten. Das glaubt heutzutage kaum jemand und dadurch ist eine nüchterne, unemotionale Analyse möglich. Wenn man gemeinsam die dahinterstehenden Mechanismen identifiziert hat, kann man diese auf aktuelle Fälle übertragen.

Welchen Rat würden Sie Schüler*innen geben, wie sie am besten auf Familienmitglieder reagieren können, die an Verschwörungstheorien glauben?

Sie sollten sich fragen, wie tief die Person, die von Verschwörungstheorien erzählt, schon drinsteckt. Bei genuin Überzeugten kommt man mit Fakten nicht weiter. Hier ist es wichtig, Gesprächsbereitschaft zu signalisieren und Fragen zu stellen. Warum glaubst du das? Wieso vertraust du dieser Quelle mehr als anderen? Wie passt das zu dem, was du gestern gesagt hast? Das Ziel wäre immer, einen Prozess der Selbstreflexion anzustoßen. Bei Familienangehörigen, die sich erst einmal bloß vorstellen können, dass bestimmte Verschwörungstheorien zutreffen, sollte man mit Fakten dagegenhalten. Schüler*innen, die noch nicht so gut argumentieren können, sollten sich Hilfe und Unterstützung von erwachsenen Vertrauenspersonen holen. Leider gibt es derzeit noch keine Beratungsstellen zu Verschwörungstheorien, wie es sie zu Extremismus oder Sekten gibt. Das ändert sich aber hoffentlich bald.

Ihre Prognose: Werden die Verschwörungstheorien über das Coronavirus mit dem Abflachen der Pandemie wieder verschwinden oder bleibt uns davon etwas?

Ich glaube, es bleibt auf jeden Fall etwas davon. Viele Verschwörungstheorien über Corona präsentieren sich als neuestes Kapitel in einer langen Erzählung bereits existierender Verschwörungstheorien. Die Coronakrise ist darin z. B. das neueste Komplott der Pharmaindustrie, um uns alle zu impfen, oder das neueste Komplott der Bundesregierung, um unsere Grundrechte einzuschränken. Irgendwann wird es dann ein neues Kapitel geben. Man könnte auch sagen: Nach der Verschwörungstheorie ist vor der Verschwörungstheorie.

Prof Dr. Butter, wir danken Ihnen herzlich für das Gespräch.

Madeleine Hankele-Gauß

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