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Letzte Aktualisierung: 18.07.2023

Ein neuer Schönheits-Filter namens „Bold Glamour“ sorgt auf dem sozialen Netzwerk TikTok für Furore. Die täuschend echt optimierten Gesichter imitieren das aktuelle Schönheitsideal à la Kim Kardashian und wirken besonders authentisch. Was auf den ersten Blick wie eine virtuelle Spielerei wirkt, hat reale Folgen für das Selbstbild und Verhalten von Kindern und Jugendlichen. Dahinter verbergen sich knallharte Geschäftsabsichten im Kampf um Aufmerksamkeit und Daten in der Plattform-Ökonomie.

Neben allem Wissenswertem zum Thema finden Sie hier Materialien und Tipps für Lehrkräfte und Eltern zum Umgang mit Schönheitsidealen im Netz. 

Workshop „Schönheitsideale und Selbstdarstellung im Netz“ anfragen

Broschüre „Schönheitsideale im Internet?!“ herunterladen

Artikel „Schönheitsideale in sozialen Netzwerken“ mit Tipps für Eltern

Wie funktioniert der Filter Bold Glamour?

Wenn Reality-TV-Star und Influencerin Kim Kardashian ein Schönheits-Filter wäre, sähe er ziemlich sicher so aus wie der neue Filter „Bold Glamour“ auf dem sozialen Netzwerk TikTok. Mit einem Klick zaubert er eine makellose Haut, große Katzenaugen mit dichten Augenbrauen sowie eine schmale Stupsnase ins Gesicht – hohe Wangenknochen und volle Lippen inklusive.  

Zwar ist Bold Glamour nicht der erste Schönheitsfilter seiner Art, funktioniert jedoch besser als seine Vorgänger. Das optimierte Gesicht wirkt im Video besonders authentisch: Berührungen im und Bewegungen vor dem Gesicht zerstören den Effekt nicht. Seine bislang mehr als 15 Millionen Nutzer/-innen quittieren die eigene Verwandlung mit Staunen, Faszination und Ungläubigkeit. 

Zwei Influencerinnen mit und ohne Bold-Glamour-Filter im Vergleich

Vorher-Nacher-Vergleich der Influencerinnen Hira Mustafa (links) und Joanna Kenny (rechts)

Was machen Filter mit unserem Selbstbild?

Psychologinnen und Psychologen, Journalistinnen und Journalisten und sogar die Anbieter/-innen der sozialen Netzwerke selbst sind sich darüber einig, dass der regelmäßige Einsatz von Filtern unsere Sehgewohnheiten maßgeblich prägen. Psychologe Helmut Leder beobachtet sogar, dass sich durch die alltägliche Fotomanipulation „das Schönheitsideal derzeit so schnell verändert wie nie zuvor.“ 

Durch die in den sozialen Medien überrepräsentierten Bold Glamour-Gesichter wird die Norm unseres Schönheitsideals „nach oben“ geschraubt. Das sogenannte Instagram Face wird, vor allem bei häufiger Socia-Media-Nutzung, als Durchschnitt empfunden. Insbesondere Heranwachsende mitten in der Identitätsfindung empfinden sich als unattraktiv, wenn sie beim morgendlichen Blick in den Spiegel nicht dem gefühlten Durchschnitt entsprechen. Die wachsende Schere zwischen dem optimierten digitalen „Ich“ und der Offline-Version kann frustrieren. Das virtuelle Ideal scheint unerreichbar, erhält jedoch die meiste, in Likes und Kommentaren messbare Aufmerksamkeit.

Eine repräsentative Befragung (2019) unter rund 850 deutschen Jugendlichen ergab, dass inzwischen etwa die Hälfte aller Mädchen zumindest manchmal Filter-Software verwendet. Welche realen Konsequenzen Fotomanipulation für Körper und Gesundheit haben kann, zeigen zwei kleine Studien aus Deutschland und den USA. In einer qualitativen Befragung (2019) von rund 150 Betroffenen von Essstörungen gaben 8 von 10 Jugendlichen aus Deutschland an, dass der Einsatz von Bildbearbeitungstechnologie sie im realen Leben beeinflusst hat. Um „so perfekt“ zu sein wie ihr virtuelles Ideal, trieben sie mehr Sport oder begannen eine Diät. Dass Filter und Co. auch den Wunsch nach Schönheitsoperationen im Gesicht verstärken können, belegt wiederum eine US-amerikanische Befragung unter 70 Patientinnen und Patienten von Schönheitsoperationen aus dem Jahr 2020.

 

Welche Filter existieren noch?

Neben dem Bold Glamour-Filter existieren unzählige Filter, welche zur Selbstoptimierung eingesetzt werden können:  

In Summe werden die Filter von Expertinnen und Experten noch problematischer betrachtet als der Bold Glamour-Filter allein.  

Wie verändern Schönheitsfilter unsere Gesellschaft?

Bereits ohne Selfie-Filter wird in Werbefotos, Influencer-Kanälen, pornografischen Darstellungen und Musikvideos ein stereotypes Geschlechterbild zum gesellschaftlichen Maßstab erklärt. Durch die alltägliche Nutzung von Beauty-Filtern dringt dieses Geschlechterbild in die private Welt unserer digitalen Fotoalben und Selbstpräsentationen vor. Publizistin Samira El Ouassil befürchtet sogar, dass wir in Zukunft „KI-konservierte Versionen unserer selbst online kuratieren, pflegen und kultivieren werden … soweit, bis wir nur noch eine schöne, zeitlose, nicht alternde Avatar von uns präsentieren wollen, die so aussieht wie wir – nur in gut.“  

Gleichzeitig liefert der Filter eine „Steilvorlage“ für beleidigende Kommentare gegenüber Individuen und gesellschaftlichen Gruppen, die nicht dem stereotypen Schönheitsideal entsprechen. Bereits in der Vergangenheit wurden anders aussehende Menschen auf der Plattform TikTok systematisch diskriminiert: Das Unternehmen hatte laut internen Papieren seine Moderatorinnen und Moderatoren dazu aufgefordert, Videos von Menschen mit Behinderung sowie von dicken und armen Menschen zu verstecken. Merkmale wie ein „offensichtlicher Bierbauch“, „zu viele Falten“, „abnormale Körperform“ oder „Pummeligkeit“ führten dazu, dass Videos in ihrer Reichweite deutlich eingeschränkt wurden. Dadurch wird uns als Gesellschaft ein uniformes, gleichgeschaltetes Schönheitsbild übergestülpt, dass demokratischen Idealen von Vielfalt und Toleranz entgegensteht. 

Wer profitiert vom Einsatz der Filter?

Wenn die Filter schädlich sind, wer profitiert dann davon? Hinter den Filter-Apps steckt ein ganzes Ökosystem, das dadurch seinen Profit steigert, obwohl es die Filter kostenlos anbietet. Die Anbieter verdienen zum einen durch die wachsenden Nutzungszeiten, da so mehr Werbung ausgespielt werden kann. Zum anderen profitieren sie durch die gewonnenen Daten: Diese können monetarisiert werden – entweder durch den Verkauf an Dritte oder durch die noch gezieltere Ausspielung von Werbung.  

Aus Sicht der Anbieter verbessern Filter die sogenannte „User Experience“. Von außen betrachtet funktionieren TikTok oder Instagram noch perfekter als Vergleichsmaschinen, in denen sich User/-innen in einem ständigen Wettbewerb um Aufmerksamkeit befinden. Zwar erleben sich die meist jungen Nutzer/-innen selbstwirksam, wenn auf die optimierte Selbstversion positive Kommentare folgen. Sie geraten jedoch in einen Teufelskreis, wenn die positiv erlebte Aufmerksamkeit im Offline-Alltag ausbleibt.

Können durch Beauty-Filter biometrische Daten erstellt werden?

Abgelenkt von den spektakulären Effekten des Bold Glamour-Filters dürften dabei nur wenige den Umgang mit biometrischen Daten kritisch hinterfragen. Diese machen uns als Menschen eindeutig identifzierbar: Ihre Verarbeitung ist daher laut Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) mit wenigen Ausnahmen verboten. 

Bei der Nutzung von Filtern wie Bold Glamour können biometrische Daten ohne weiteres erstellt werden. Dass TikTok biometrische Daten verarbeitet und sie Dritten zugänglich macht, um noch besser Werbung auszuspielen, wurde bereits 2021 vor US-Gerichten angefochten. Aktuell gewonnene biometrische Daten können theoretisch dafür eingesetzt werden, um zukünftige Anwendungen (u.a. zur Betrugsbekämpfung, Authentifikation, Zahlungs-Apps) mittels KI zu trainieren. 

TikTok selbst will nicht bestätigen, dass hinter Bold Glamour eine KI zum Einsatz kommt. Experten vermuten aber, dass TikTok zwei künstliche neuronale Netzwerke („Generative Adversarial Networks“) einsetzt, um den hyperrealistischen Effekt des Filters zu erzeugen.

Aller guten Dinge sind drei – Tipps für Lehrkräfte

  • Schönheitsideale unterliegen einem steten zeitlichen Wandel und sind außerdem stark von der jeweiligen Kultur abhängig. Indem Kinder und Jugendliche Schönheitsideale vergangener Jahrzehnte, Epochen oder anderer Kulturen kennenlernen, lernen sie aktuelle Schönheitsideale zu relativieren und zu hinterfragen.  

  • In den sozialen Medien ist Schönheit häufig Mittel zum Zweck. Schönheitsideale werden heraufbeschworen, um Produkte zu bewerben und zu verkaufen, die einen angeblich schöner, fitter und attraktiver machen. Wenn Heranwachsende diese kommerziellen Interessen verstehen, kann es ihnen leichter fallen, sich von den beworbenen Idealen abzugrenzen.   

  • Kinder und Jugendliche, insbesondere Mädchen, nehmen ihr Äußeres selbst oft viel kritischer und negativer wahr als ihre Peers. Übungen, die die Selbst- und Fremdwahrnehmung gegenüberstellen, können dabei helfen, einen ausgewogeneren Blick auf sich selbst zu erlernen.

Unterrichtsmaterialien, um diese Tipps direkt umzusetzen, finden Sie hier.

Aller guten Dinge sind drei – Tipps für Eltern

  • Wenn Ihr Kind viel mit Filtern experimentiert und eigene Fotos und Videos mit Beauty-Filtern optimiert, können Sie ihm vorschlagen, auch einmal humorvolle Filter zu verwenden. Dazu zählen z.B. der Waves-Filter, der einem Video Wellenbewegungen hinzufügt, oder der Renaissance-Eyes-Filter, der alten Renaissance-Gemälden die eigenen Augen verleiht. Sie fördern einen lockeren, spielerischen Umgang mit dem eigenen Aussehen.  

  • Heranwachsende stecken mitten in der Persönlichkeitsentwicklung und sind ständig auf der Suche nach Vorbildern. Zeigen Sie Ihrem Kind alternative Influencer, die in ihrem Aussehen vom gängigen Schönheitsideal (z.B. Fine.bauer, hannah bohnekamp) oder Genderstereotypen (z.B. tesfu_tarik) abweichen oder bewusst Schein-versus-Sein-Fotos (z.B. Saggysara) posten, die die Selbstinszenierung in den sozialen Medien hinterfragen.  

  • Je mehr Zeit junge Menschen in den sozialen Medien verbringen und dort optimierte Bilder und Videos konsumieren, desto stärker verzerrt sich ihre Schönheits- und Selbstwahrnehmung. Legen Sie altersabhängig einen zeitlichen Rahmen für die Mediennutzung fest und überwachsen sie diesen z.B. mithilfe der Einstellungen am Smartphone oder in den sozialen Medien. 

Weitere Informationen und Tipps für Eltern im Umgang mit Schönheitsidealen finden Sie hier.

Christian Reinhold & Madeleine Hankele-Gauß

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