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Agil durch die Krise? – Interview zu Scrum im Unterricht

Madeleine Hankele-Gauß
Portrait von Tom Mittelbach

Tom Mittelbach, Lehrer an der Friedrich-Uhlmann-Schule in Laupheim, SMV-Beauftragter des Landes Baden-Württemberg und Referent des Zentrums für Schulqualität und Lehrerbildung (ZSL)

Im Gespräch mit Tom Mittelbach

Tom Mittelbach ist seit elf Jahren Fachoberlehrer an der Friedrich-Uhlmann-Schule, einer Gemeinschaftsschule in Laupheim im Landkreis Biberach. Er unterrichtet die Fächer Technik, Sport, Naturwissenschaft und Technik sowie Ethik. Außerdem ist er als SMV-Beauftragter des Landes Baden-Württemberg und als Referent in der Lehrerfortbildung des Zentrums für Schulqualität und Lehrerbildung (ZSL) tätig. Mit ihm haben wir über die agile Methode Scrum gesprochen und wie sie im schulischen Unterricht genutzt werden kann – auch oder gerade in Zeiten des Fernunterrichts.

Scrum ist eine Methode, die im Wirtschaftsleben eingesetzt wird, um die Entwicklung komplexer Produkte und Software in Projektteams zu steuern. Was zeichnet diese Methode aus der Schulsicht aus?

Viele Lehrer/-innen finden Scrum sympathisch, weil die Methode auf den ersten Blick sehr reglementiert aussieht. Es gibt klar festgelegte Rollen für Lehrer/-innen und Schüler/-innen, die in einem Projektteam aus meist vier Personen zusammenarbeiten. Um die Teamarbeit zu organisieren, findet vor jeder Lerneinheit ein Treffen im Team statt, in dem Aufgaben dokumentiert und verteilt werden. Diese fixen Rahmenbedingungen kommen auch Kindern und Jugendlichen entgegen, die intellektuell nicht so stark sind. Was aber innerhalb dieses Rahmens passiert, ist extrem frei – das finde ich das Schöne an der Methode.

„Das Schülerteam kann die Aufgaben so untereinander verteilen, dass alle an etwas arbeiten, worauf sie Lust haben“

Scrum gehört zu den sogenannten „agilen“ Methoden. Was ist das „Agile“, das im Schulunterricht zum Tragen kommt?

Agilität heißt ja erst einmal „große Reaktionsfähigkeit“ oder „große Beweglichkeit“. Die Schüler/-innen können also in der Art und Weise arbeiten, zu der sie in der Lage sind. Das Schülerteam kann die Aufgaben so untereinander verteilen, dass alle an etwas arbeiten, worauf sie Lust haben und wobei sie ihre Stärken einbringen können. Diese selbständige und proaktive Arbeitsteilung durch die Schüler/-innen ist ein großer Unterschied zu den sonst in der Schule üblichen Arbeitsweisen.

Im Rahmen von Scrum nehmen die Schüler/-innen und auch die Lehrkraft festgelegte Rollen ein. Wer übernimmt welche Rollen und mit welchen Aufgaben sind diese verbunden?

Die Lehrerin oder der Lehrer ist der Chef – das ist ja schon mal prima. Sie oder er übernimmt die Rolle des sogenannten „Product Owners“. In der Softwareentwicklung gibt der Product Owner das Produkt mit seinen Eigenschaften vor, das am Ende des Scrum-Prozesses vorliegen soll. Die Lehrkraft macht nichts anderes. Sie gibt das Endprodukt vor und legt fest, wie das Produkt am Ende aussehen und was es können soll. Wenn ich zum Beispiel ein Portfolio als Endprodukt verlange, kann ich in den sogenannten Akzeptanzkriterien die Art der Inhalte und den Umfang des Portfolios festlegen. Hat ein Produkt nicht die geforderten Eigenschaften, ist es nicht fertig. Außerdem bin ich Ansprechpartner für den sogenannten Scrum Master. Das ist ein/-e Schüler/-in aus jedem Team.

Welche Qualitäten braucht ein Scrum Master? Oder kann dies im Prinzip jede/-r Schüler/-in werden?

Der Scrum Master muss ein akzeptiertes Mitglied der Klassengemeinschaft sein, auf das die anderen Teammitglieder hören. Dabei muss er oder sie in der Lage sein, die Fäden zusammenzuhalten und innerhalb der Gruppe zu moderieren. Der Scrum Master ist zwar kein „Hilfslehrer“, unterstützt das Team aber dabei, die Struktur einzuhalten. Das heißt, dass Besprechungen stattfinden, Feedback gegeben und der sogenannte Flip gepflegt wird. Das Flip ist das Board, auf dem steht, welche Aufgaben gemacht werden sollen.

Habt ihr eine festgelegte Form für dieses Flip oder entscheiden die Schüler/-innen selbst darüber?

Das Flip ist ein Kanban-Board – eine analoge oder digitale Schreibfläche mit den Spalten „to do“, „doing“ und „done“, mithilfe der Arbeitsabläufe veranschaulicht werden [Anm. d. Red.]. In der Spalte „to do“ legen die Schüler/-innen ganz am Anfang im Sprintplan Meeting fest: Was müssen wir tun? Dieses Meeting findet statt, nachdem sie die Aufgabenstellung erhalten haben. Spannend ist, dass sie dabei selbst entscheiden müssen, welche einzelnen Arbeitsschritte nacheinander oder parallel zueinander nötig sind, um das Ziel zu erreichen. Erfahrungsgemäß tun sich die Schüler/-innen hierbei erst einmal schwer. So hat z. B. ein Team beim Thema „Fortbewegung und Bewegung in Natur und Technik“ als eine Aufgabe auf ihre „to do“-Liste geschrieben: „Drei Antriebsmöglichkeiten des Zeppelins erklären“. Diese Aufgabe war zu weit gefasst, um von einem Teammitglied sinnvoll erledigt werden zu können. Wichtig ist, dass die Aufgaben kleinteilig und überprüfbar sind, z. B. im Fall des Zeppelins „Wie bewegt sich ein Zeppelin eigentlich fort?“

Vermutlich ändert sich in diesem Prozess auch immer mal wieder etwas an dem Flip?

Genau, das muss es sogar. Einen Fehler zu machen, gilt im schulischen Kontext eigentlich fast immer als negativ. Einen Fehler zu erkennen und daraufhin seine Planung zu ändern, das ist bei Scrum dagegen ein riesiges Plus. Unter dem Flip gibt es noch zwei wichtige Dinge: die „Definition of Done“ und die „Definition of Fun“. In der Definition of Done halten die Schüler fest: Wann ist unser Produkt fertig? Außerdem gibt es noch die Definition of Fun: Wie wollen wir miteinander arbeiten, damit es allen Spaß macht? Meine Schüler/-innen haben dann irgendwann festgestellt, dass sie selbst entscheiden können, bei der Einzelarbeit Musik zu hören. Da waren sie ganz aus dem Häuschen.

„Alles in allem hat Scrum also ganz viel mit Vertrauen und Loslassen zu tun.“

Wie sieht die tägliche Zusammenarbeit bei so viel Eigenverantwortung und Selbstorganisation aus?

Steht den Schülerinnen und Schülern zum Beispiel eine Doppelstunde als Lerneinheit zur Verfügung, kommen sie direkt nach der Begrüßung in einem fünfminütigen Standup zusammen. Im Standup beantwortet jedes Teammitglied anhand des Flips folgende Fragen: Was habe ich seit der letzten Lerneinheit getan? Was werde ich bis zur nächsten Lerneinheit machen? Welche Hindernisse gibt es, die mich oder andere davon abhalten, dem Lernziel näherzukommen?

Die Lehrkraft ist bei diesen Standups nicht dabei, oder?

Nein, das machen die Teams allein. Als Lehrer/-in kann man allerdings die Kanban-Boards anschauen. Dabei kann ich beispielsweise überprüfen: Sind die Ziele eines Teams zu weit oder zu eng gefasst? Falls mir etwas auffällt, hole ich den Scrum Master, der mir dann das Board erklärt. Alles in allem hat Scrum also ganz viel mit Vertrauen und Loslassen zu tun.

Könnte man diese Teamphasen denn auch in der aktuellen Fernunterrichts-Situation gut umsetzen?

Wenn ich von Blended Learning mit wechselndem Präsenz- und Fernunterricht ausgehe, könnte man zum Beispiel Prüfungsvorbereitung auf diese Weise gut umsetzen. Das Sprintplan Meeting könnte im Präsenzunterricht stattfinden. Vor Ort würde dann geklärt: Wer macht bis wann welche Arbeitsschritte? Mithilfe eines Flips, das online zur Verfügung steht, könnte dann jedes Teammitglied von zu Hause aus weiterarbeiten. Dann bräuchten die Schüler/-innen nur noch Kommunikationswege für das Standup: zum Beispiel einen Chat, eine Telefon- oder Videokonferenz.

Die Methode ist einerseits sehr regelbasiert und erfordert andererseits ein hohes Maß an Selbständigkeit. Kommen damit in der Praxis alle Kinder und Jugendlichen klar?

Nicht alle Kinder und Jugendlichen kommen damit von Anfang an gleich gut klar – von meinen Schülerinnen und Schüler vielleicht die Hälfte. Kinder und Jugendliche, mit denen ich das schon häufiger gemacht habe, verinnerlichen aber schnell die Strukturen und entwickeln für sich eine richtig gute Definition of Fun. Dann haben wir eigentlich den Idealfall von Schule: Schüler/-innen erleben sich als höchst selbstwirksam und haben Spaß bei dem, was sie tun, obwohl das Thema von außen an sie herangetragen wird.

Für welchen Themenbereich hast du Scrum zuletzt im Unterricht eingesetzt? In welchem Fach und welcher Klassenstufe? Was lief gut, was schlecht?

Die letzten beiden Scrums fanden beide im Fach Naturwissenschaft und Technik statt. Das eine Thema war „Luftfahrt“ und das andere „Fortbewegung in Natur und Technik“ jeweils in der Klassenstufe 8. Was gut läuft, ist das selbständige Arbeiten der Schüler/-innen. Dabei treiben sich die Teammitglieder auch gegenseitig zur Arbeit an. Das führt allerdings häufiger zu Konflikten im Team. Es kommt vor, dass sich die einen im Team benachteiligt fühlen, weil sie fleißig ihre Aufgaben erfüllen und eine/-r gar nichts macht. Doch aus diesen Situationen können auch alle lernen, vor allem Soft Skills wie Konfliktlösungsstrategien und Empathie.

Was möchtest du deinen Lehrerkolleginnen und -kollegen mit auf den Weg geben, die diese Methode zum ersten Mal ausprobieren?

Erst einmal würde ich mich mit Lehrerkolleginnen und -kollegen austauschen, die die Methode schon kennen. Anschließend würde ich die Arbeitsprozesse für mich in einer Sketchnote oder einem Diagramm visualisieren. Und dann einfach entspannt loslegen: nach dem Prinzip „Try and Error“. Klar, man muss sich in die vielen Begrifflichkeiten erst einmal einarbeiten. Der Vorteil von Scrum ist aber, dass die fixen Strukturen nicht nur den Schülerinnen und Schülern, sondern auch den Lehrerinnen und Lehrern Orientierung bieten. Alles in allem ist Scrum also eine sehr anwenderfreundliche Methode.

Vielen Dank für das Gespräch!

 

Madeleine Hankele-Gauß

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