Bausteine zur Filmanalyse – Filme lesen lernen

Im Rahmen der SchulKinoWoche Baden-Württemberg werden jährlich filmpädagogische Fortbildungen angeboten, unter anderem mit dem Filmwissenschaftler Manfred Rüsel. Seine Ausführungen über die Grundlagen der Ästhetik und Gestaltung von Film, die er anhand kurzer Filmausschnitte veranschaulicht, haben wir hier zu einer Einheit zur Filmanalyse zusammengefügt. Ziel ist es, für die Vielschichtigkeit und Differenziertheit des Mediums Film zu sensibilisieren und deutlich zu machen, dass jeder Film bis ins kleinste Detail inszeniert ist.

Zuschauer von hinten im Kino

GettyImages/MediaProduction

Filmgeschichtliches

Sortie de l’usine

Es waren die Gebrüder Lumière, die die Bilder laufen lehrten. Mit einem Film, einer kurzen Sequenz darüber, wie Arbeiter die Fabrik verlassen, begann die Filmgeschichte im Dezember 1895. Es handelte sich übrigens um die Fabrik der Familie Lumière für Chemikalien und fotografische Platten. Schon in diesem kurzen Film wird nichts dem Zufall überlassen, sondern das Ganze ist durch und durch inszeniert. Die Arbeiter tragen ihre beste Kleidung, sie vermeiden den direkten Blick in die Kamera, zu Beginn öffnet sich eine Tür und am Ende schließt sie sich wieder. Kleine Pointen sorgen darüber hinaus für eine gewisse Dramaturgie.

Visuelles Konzept

Jeder Film folgt einem visuellen Konzept, das festlegt, wie die handelnden Personen gezeigt werden, welche Atmosphäre zu welchem Zeitpunkt des Films erzeugt, welche Stimmungen und Assoziationen beim Zuschauer geweckt werden sollen.

Billy Elliot (GB 2000, Stephen Daldry)

Im Verlauf des Films treten offene Räume an die Stelle von Wänden und Gittern, er zeichnet damit über die Bildsprache Billys Weg nach und zum Teil auch schon vor, den dieser zum Schluss immer freier gehen kann.

Vier Minuten (D 2006, Chris Kraus)

Auch bei diesem Film begegnet uns die geschlossene Form in zahlreichen Szenen. Jenny ist eine junge Mörderin und sitzt im Gefängnis. Aber auch als sie dank ihrer Begabung zu einem Musik-Wettbewerb fahren darf, zeigt der Film dies in geschlossenen Formen und inszeniert gleichzeitig Jennys Zerrissenheit ebenso wie die ihrer Klavierlehrerin.

Exposition

Schon nach wenigen Minuten wissen wir, worum es in dem Film, der ja eigentlich noch vor uns liegt, geht. Bereits die ersten Einstellungen fassen meist das gesamte Thema eines Films kurz zusammen. Wer daher am Anfang genau hinschaut, kann entdecken, was auf ihn zukommt. Exposition bedeutet die visuelle und akustische Einführung des Zuschauers in Grundstimmung, Ausgangssituation, Zustände, Zeit, Ort und Personen des Films und die Vermittlung der für das Verständnis wichtigen Voraussetzungen und Hintergründe der Filmhandlung.

Die fetten Jahre sind vorbei (D 2004, Hans Weingartner)

Manfred Rüsel beschreibt wichtige Elemente einer Exposition anhand des Films Die fetten Jahre sind vorbei.

Kameraperspektiven

Für die Dramaturgie einer Filmsequenz spielt die Kameraperspektive eine ganz wichtige Rolle. Vor allem drei Begriffe fallen in diesem Zusammenhang immer wieder:

Die Normalsicht ist sozusagen eine Auge-in-Auge-Perspektive. Sie entspricht unserer alltäglichen Wahrnehmung, wenn wir einem Menschen gegenüber stehen.

Die Untersicht, also von unten aufgenommene Objekte und Personen erscheinen sofort in ganz anderer Weise. Die Untersicht kann so wirken, dass eine Person als Held, Idol, Star oder mächtiger Mensch erscheint oder sie erzeugt – eingebettet in weitere entsprechende Elemente wie Licht, Ausstattung etc. – eine bedrohliche Wirkung. Die Extremform dieser Perspektive nennt man Froschperspektive.

Die Draufsicht/Aufsicht zeigt Gegenstände und Personen von oben und lässt sie dadurch kleiner, hilfloser, einsamer oder auch machtloser erscheinen. Die Extremform dieser Perspektive nennt man Vogelperspektive.

Nosferatu (D 1922, Friedrich W. Murnau)

In die Filmgeschichte eingegangen ist auch die extreme Untersicht aus dem Film Nosferatu von Friedrich Wilhelm Murnau. Als erster zeigte er 1922 aus dieser Perspektive das Böse. Inzwischen gehört dies zum festen Repertoire von Regisseuren.

„Was an dieser Einstellung so bemerkenswert ist, es ist die erste extreme Untersicht der Filmgeschichte. Das Filmteam geht also auf den Boden des Schiffes, filmt den Grafen ... aus der Extremperspektive von unten. Er ist ja schon relativ groß der Schauspieler und ist dämonisch über die Maske gezeichnet, mit den langen Fingernägeln und der Glatze und der Effekt dieser Untersicht betont dieses Bedrohliche.“

Der Untertan (D 1951, Wolfgang Staudte)

Ein anderes Beispiel für den gekonnten Einsatz von Kameraperspektiven ist der Film Der Untertan (1951), auch dies eine Literaturverfilmung. Macht und Ohnmacht werden mit dem Wechsel von Auf- und Untersicht hier besonders schön illustriert.

„Es gibt einen Film, den ich immer ganz gerne einsetze, um die Verschiebung von Literatur und Verfilmung ganz deutlich zu machen, der auch mit Kamerperspektiven arbeitet, das ist Der Untertan von Wolfgang Staudt. Das ist auch ein alter Schwarz-Weiß-Film von 1951. Da kann man sehr schön sehen, wie ein Film sehr schön verdichtet: 400 Seiten Roman – 90 Minuten Film. Und wie er die zentrale Stelle [...] auf eine kurze Szene, die nicht viel länger ist als eine Minute verdichtet und dieses Wechselspiel von Untertan und Herrscher, von Ohnmacht und Macht wird mit dem Wechselspiel von Kameraperspektiven der Auf- und der Untersicht wunderbar fast paradigmatisch deutlich gemacht.“

Kamerabewegungen

Die meisten verbinden mit Kamerabewegung Begriffe wie Kamerafahrt oder Schwenk. Heutzutage ist der Umgang mit Kamera und Computer aber noch weit vielfältiger als früher. Wie die Kamera in einem gestalteten Filmraum bewegt wird, gibt Auskunft darüber, welche Wirkung der Regisseur erzeugen möchte. Zwei Beispiele seien hier herausgegriffen: die Handkamera und die Steadicam meist kombiniert mit computeranimierten Bildern.

Panic Room (USA 2002, David Fincher)

Anhand von Panic Room lässt sich die Kamerabewegung mittels Steadicam sehr gut nachvollziehen. Zu sehen ist eine ruckelfreie Bewegung durch den Raum, die uns das Ambiente in aller Ruhe betrachten lässt.

„Die Kamerabewegung, die Sie hier gesehen haben, suggeriert uns in einer einzigen Einstellung die ganze Szene zu beschreiben, es gibt nur drei oder vier Schnitte in dieser Szene. Es ist eine Kamerabewegung, die sehr elegant ist, die ganz stabil und ruhig verläuft, da wackelt nix. [...] Sie vollführt natürlich die unmöglichsten Bewegungen: in ein Schlüsselloch reinfahren, durch den Henkel einer Tasse, also insofern filmtechnisch ist das eine Kombination aus einer sogenannten Steadicam und Computer.

 Steadicam ist eine Apparatur, die sich der Kameramann um die Hüfte schnallt und dann durch den Raum fahren kann, die Kamera ist ganz weit weg an einem Gerüst aufgebaut und der Kameramann kontrolliert die Kamera über so einen kleinen Monitor. Das ist eine Kameratechnik, die heute fast in jedem Kinofilm, aber auch in jedem Tatort angewendet wird. Ist sehr teuer, man braucht einen eigenen Kameramann. Sie ermöglicht eine ruckelfreie Bewegung durch den Raum. [...] Es wirkt wie eine harmonische Kamerabewegung... Die Perspektive des Erzählers ist eine auktoriale, hier gibt es also einen allwissenden Erzähler, der uns genau beschreibt, was gerade passiert. [...] Viele Filme arbeiten durchaus mit einer Kombination aus beidem: Handkamera oder Steadicam. [...] Je nachdem, was ich aussagen möchte, wähle ich meine Kamerabewegung, meinen Kamerastil.“

Licht und Farbe

Licht und Farbe sind immens wichtig für die Wirkung eines Filmes. Die beiden Elemente sind sogar prägend für die Qualität des gesamten Films. Beides richtig einzusetzen erfordert Können und viel Geld.

Misery (USA 1990, Rob Reiner)

Manfred Rüsel wählte den Film Misery, um die Lichteffekte zu verdeutlichen.

„Achten Sie darauf, wie beide Personen bei der gleichen logischen Beleuchtung – das ist natürlich mit Scheinwerfern simuliert – dennoch anders gezeigt werden. Hier sehen Sie bei ihm dieses rosafarbene Licht, weit wärmere Töne als auf der anderen Seite: ganz hartes gerichtetes Licht kommt hier von rechts man sieht hier wieder das klassische Beispiel der Untersicht. Also seit Nosferatu, Herr der Ringe – das Böse überall zu sehen gerne in dieser Untersicht. Es gibt übrigens auch Regisseure, die das ‚Terminator-Shot‘ nennen, das sind die, die sich erst später mit dem Film zu beschäftigen beginnen und die das das erste Mal beim Terminator (erster Teil 1984) gesehen haben.

Hier das sogenannte Hell-Dunkel, das Licht, das also den Antagonisten des Films nur zur Hälfte zeigt, das ist eine Konvention des Kinos. Das signalisiert uns: es handelt sich hierbei nicht um den Guten, maximal um einen ambivalenten Charakter, wahrscheinlich eher um den Bösen. Das ist eine Konvention im Kino. Jeder der so beleuchtet wird, mit hartem gerichteten Licht, das eine Gesichtshälfte in den Schattenbereich fallen lässt, ist nicht die positive Identifikationsfigur.“

Vertigo (USA 1958, Alfred Hitchcock)

Ein Film des Großmeisters der Regie – Alfred Hitchcock – kann vortrefflich aufzeigen, welch intensive Wirkung ein Filmemacher mit Mitteln der Farbgebung erzeugen kann. In Vertigo übernimmt die Farbgebung ein Stück der Aussage des gesamten Films.

„Es kommt jetzt ganz auf die Atmosphäre des Lichtes, die Beleuchtung an. Und Sie werden sehen, das wirkt ganz merkwürdig. [...] Jetzt ist das Appartement erstmal grün. Es ist aber nicht im positiven Sinne grün, sondern es ist so ein schmieriges, komisches Grün, das motiviert wird durch die Neonreklame draußen, das eine ganz bestimmte Wirkung erzeugt. Dann fehlen hier die Farben im Appartement. Heute sagt man ‚entsättigte Farben‘. Sie sehen eigentlich nur so einen merkwürdigen verwaschenen Rosa-Braun-Ton, diesen Grünton in einem Raum der sich sonst (während des Films) ganz anders darstellte. Und selbst das Bett, das wir gleich in einer anderen Einstellung sehen, ist so gestaltet, dass dieser Grünton diesen Bettkasten da bestimmt. Das Bild da oben war ganz farblos.

Jetzt taucht die Geliebte aus dem Badezimmer auf und die Musik spielt hier eine ganz wichtige Rolle [...] es ist Tristan und Isolde, Richard Wagner [...] es ist also eine direkte Kombination von der Aussageebene der Musik und des Bildes. Das ist ja eine Liebesgeschichte, die auch nicht gut ausging. Und jetzt taucht sie aus der Totengruft auf. Da. Wie durch einen Schleier taucht sie aus dem Nebel auf. Und auf der anderen Seite sehen wir sein Gesicht und dass die Augen glänzen. Das ist ein spezielles Licht, das so genannte Augenlicht, das hier eingesetzt wird, um seine Augen glänzen zu lassen. [...]

Der positive Held [...] lässt die Tote auferstehen. Ist also jemand, der nur rückwärts gewandt lebt, der so was wie Nekrophilie betreibt. Der Hitchcock bricht also hier in dieser Szene (durch die Licht- und Farbeneffekte) mit dem Star James Stuart, in dem er ihm eigentlich vorwirft: was du machst ist abartig. Schüler frage ich dann immer: ‚Stell dir mal vor, dein Freund würde dich nach dem Bilde der Ex gestalten‘.“

Ton und Musik

 Sie sind unsichtbar und entfalten doch eine ungeheuer starke Wirkung im Film: Ton, Geräusche und Musik. Und die Filmemacher widmen diesen Elementen größte Aufmerksamkeit. Bei Titanic haben beispielsweise allein 150 Leute am Sounddesign gearbeitet.

Anhand von zwei Filmen hat Manfred Rüsel dies verdeutlicht.

Emil und die Detektive (D 1931, Gerhard Lamprecht)

Bei diesem Film handelt es sich um die erste Verfilmung des berühmten Kinderbuches von Erich Kästner. Und schon damals verstand es der Regisseur Gerhard Lamprecht den Ton als gestaltendes Element einzusetzen. Vor allem als es darum ging, den Bösen vorzustellen, kam neben entsprechenden Bildern auch der Ton in einer ganz speziellen Weise zum Einsatz.

Manfred Rüsel:

„Wie wird der Böse charakterisiert oder wie ist die filmische Gestaltung des Bösen? Wodurch wissen Sie und auch das Publikum in den 30er-Jahren, das ist der Böse ... Er versteckt sein Gesicht hinter der Zeitung, während alle anderen zu sehen sind. Das wäre eine Analogie zum Text. Er hat auch so einen Hut auf. [...] Genau, das wäre eine Verschiebung ‚Ich habe etwas Geschäftliches zu tun“. [...] Das Warnsignal des Zuges, ganz wichtig, Vorausdeutung, dass es der Böse ist und seine Stimme und wie er aussieht.“

Handouts

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Elke Albrecht und Ingrid Bounin

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