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Anja Fuchs vom SBBZ Markgröningen

Anja Fuchs leitet den Sonderpädagogischen Dienst und das Medienberatungszentrum am SBBZ Markgröningen | Foto: Anja Fuchs

„Es gibt so viele Barrieren, die zu beseitigen sind.“

In Baden-Württemberg gibt es über 30 Sonderpädagogische Bildungs- und Beratungszentren (SBBZ) mit Förderschwerpunkt körperliche und motorische Entwicklung. Darüber hinaus besuchen rund 3500 Schülerinnen und Schüler mit einer körperlichen Beeinträchtigung eine allgemeinbildende Schule. Die Mehrzahl dieser Kinder und Jugendlichen ist auf besondere Unterstützung im Unterricht angewiesen.

Anja Fuchs leitet das Medienberatungszentrum für Computer und Kommunikationshilfen für körperlich-motorische Entwicklung an der August-Hermann-Werner-Schule in Markgröningen, das für ganz Baden-Württemberg zuständig ist. Außerdem leitet sie den Sonderpädagogischen Dienst, der Schülerinnen und Schüler mit körperlich-motorischen Beeinträchtigungen an allgemeinbildenden Schulen im Landkreis Ludwigsburg unterstützt.

Mit ihrem Team berät sie Eltern bei der Wahl der richtigen Schule für ihr körperbehindertes Kind. An allgemeinbildenden Schulen hilft sie, die Voraussetzungen für eine erfolgreiche gemeinsame Beschulung zu schaffen. Im Medienberatungszentrum berät sie zum Einsatz von Sprachausgabegeräten, speziellen Tastaturen, augengesteuerten Tablets und anderen Hilfsmitteln zum Lernen.

In unserem Gespräch gibt sie einen Eindruck von ihrem Arbeitsumfeld und fordert dazu auf, nicht nur architektonische, sondern auch digitale Barrieren abzubauen.

Arbeitsplatz für Schüler mit körperlich-motorischer Beeinträchtigung

Arbeitsplatz im SBBZ Markgröningen | Foto: Anja Fuchs

Viele Schülerinnen und Schüler können sich nicht bewegen oder verbal mitteilen

Die August-Hermann-Werner-Schule wird von Kindern und Jugendlichen besucht, die körperlich oder motorisch beeinträchtigt sind. Welche Formen der Beeinträchtigungen bringen die Schülerinnen und Schüler besonders häufig mit?

Viele unserer Schülerinnen und Schüler haben eine sogenannte Infantile Zerebralparese. Bei diesen Kindern ist die zentrale Steuerung im Gehirn gestört. Das kann im Mutterleib, durch Sauerstoffmangel bei der Geburt oder durch ein Schädel-Hirn-Trauma passiert sein und führt beispielsweise zu Spastiken. Je nachdem, welche Areale wie stark betroffen sind, äußert sich die Hirnschädigung in einer entsprechenden Beeinträchtigung. Zum Teil haben diese Kinder komplexe Behinderungen, können sich nicht bewegen und sich verbal nicht mitteilen. An unserer Schule haben etwa 50 Prozent der Schülerinnen und Schüler eine solche zentral bedingte Behinderung. Grundsätzlich haben alle Kinder eine Lernbehinderung oder eine geistige Beeinträchtigung, die mit deren Körperbehinderung einhergeht.

Wie kann man sich eine Klasse am SBBZ vorstellen? Wie viele Kinder werden unterrichtet, wieviel Personal braucht es dazu?

Das ist sehr unterschiedlich. Es gibt Klassen mit Kindern, in denen nach dem Bildungsgang „Lernen“ unterrichtet wird, hier ist oft nur eine Lehrkraft im Unterricht. Es gibt aber auch Klassen, in denen Schwerstbehinderte unterrichtet und die Inhalte entsprechend basal gehalten werden. Diese Schülerinnen und Schüler haben einen höheren Bedarf an sonderpädagogischer Förderung und an Betreuung.

Die Klassengröße bewegt sich zwischen vier und sieben Schülerinnen und Schülern. Je nachdem wie der Pflegebedarf und der sonderpädagogische Bedarf ausfällt, sind oft zusätzlich noch mehrere erwachsene Personen in der Klasse tätig: das ist der Klassenlehrer bzw. die Klassenlehrerinnen, eine Co-Lehrkraft, Physio- und Ergotherapeutinnen und -therapeuten mit sonderpädagogischer Zusatzausbildung, Erzieher/-innen mit einer sonderpädagogischen Zusatzausbildung und ggf. noch weitere betreuende Kräfte, die unterstützen.

Schränke voller Hilfsmittel im Medienberatungszentrum Markgröningen

Im Medienberatungszentrum gibt es Schränke voller spezieller Tastaturen, Mäuse und weiterer Hilfsmittel. | Foto: Anja Fuchs

Teilhabe wird erst über technische Hilfsmittel möglich

Inwiefern können technische Mittel oder Medien den Unterricht für Kinder mit den genannten Beeinträchtigungen erleichtern?

Wir brauchen Technik, damit unsere Schülerinnen und Schüler überhaupt Zugang zu Inhalten haben. Die Teilhabe wird oft erst über Medien bzw. Hilfsmittel möglich. Dabei unterscheiden wir zwischen assistiven Technologien und Technologien, die die Kommunikation unterstützen.

Assistive Technologien unterstützen und entlasten die Motorik und helfen bei der Ansteuerung von Inhalten. Zum Beispiel gibt es viele Schülerinnen und Schüler, die mit einem üblichen Stift und Papier nicht zurechtkommen. Für manche reicht dann ein spezieller Stift und eine spezielle Unterlage. Manche benötigen einen Laptop mit einer speziellen Software, wie einem Diktier- bzw. Schreibprogramm oder einer speziellen Tastatur. Bei uns am SBBZ gibt es aber auch Schülerinnen und Schüler, deren Motorik so stark eingeschränkt ist, dass sie eine normale Tastatur nicht bedienen können. Auch mit einer üblichen Maus haben manche Kinder Schwierigkeiten, weil sie die feine Bewegung nicht steuern können. Da muss man individuell schauen, was passt. Wir haben hier Schränke voller spezieller Tastaturen und Mäuse.

Der andere Bereich dient der Unterstützung der Schülerinnen und Schüler, die nicht sprechen können. Zur Förderung der Kommunikation bieten wir Hilfsmittel wie Sprachausgabegeräte, die an SBBZ sehr häufig im Einsatz sind.

All diese speziellen Geräte kann man bei Ihnen am Medienberatungszentrum ausleihen. Wie lang ist die Ausleihfrist und was geschieht im Anschluss, sofern sich ein Hilfsmittel als geeignet erwiesen hat?

Wir verleihen Medien in der Regel für sechs Wochen. Es geht darum, Technik zu erproben, bevor man sie anschafft. Dabei helfen wir mit den Leihgeräten und der entsprechenden Beratung. Sobald man das richtige Gerät gefunden hat und es anschaffen möchte, läuft die Finanzierung in der Regel über die Krankenversicherung oder die Eingliederungshilfe.

Neben dem Verleih von Hilfsmitteln gibt es am Medienberatungszentrum auch Beratungs- und Schulungsangebote.

Ja, richtig, wir bieten eine Wissensplattform in Form eines Wikis und in Form von Tutorials an. Außerdem bieten wir Schulungen zu unseren Beratungsthemen an.

Für welche Zielgruppen sind Ihre Angebote gedacht?

In der Regel melden sich Sonderpädagoginnen und -pädagogen oder Lehrkräfte von allgemeinbildenden Schulen bei uns. Wir beraten sie dann gemeinsam mit den Eltern und dem Kind. Häufig wurden zur Unterstützung der Ansteuerung oder der Kommunikation schon ein paar Hilfsmittel ausprobiert, aber man ist noch nicht sicher, was wirklich passt. Manchmal wird ein spezielles Gerät benötigt. Zum Beispiel eines mit Augensteuerung. So etwas gibt es nicht an jedem SBBZ.

Können Sie genauer erklären, wie ein Gerät mit Augensteuerung funktioniert?

Es gibt Tablets, die haben ein Modul eingebaut, das erkennt die Pupille und deren Bewegungen. Mit den Augen kann man dadurch die Maus steuern und auslösen. Auf diese Weise kann man zum Beispiel eine Bildschirmtastatur oder auch ein Kommunikationsgerät bedienen. Für Schülerinnen und Schüler, die nicht in der Lage sind, etwas anzuklicken, kann das eine Möglichkeit sein, ein Gerät zu bedienen. Es ist spannend, das einmal selbst auszuprobieren, denn es ist gar nicht so einfach und kann schnell anstrengend werden. Diese Geräte sind allerdings sehr teuer, kosten oft um die 15.000 Euro. Deshalb kann man sie bei uns ausleihen, erproben und ggf. dann über die Krankenversicherung beschaffen.

Mädchen im Rollstuhl vor einer Treppe

powerofforever via GettyImages

Räumliche und digitale Barrieren an allgemeinbildenden Schulen

Mit dem Sonderpädagogischen Dienst unterstützen Sie an allgemeinen Schulen im Landkreis Ludwigsburg. Wie genau helfen Sie bei der Inklusion und welche Hürden gilt es zu nehmen?

Kinder, die kognitiv nicht beeinträchtigt sind, also ausschließlich körperbehindert sind, können dem Bildungsgang der allgemeinbildenden Schulen in der Regel folgen. Deren Lehrkräfte werden durch den Sonderpädagogischen Dienst beim Einsatz von Hilfsmitteln, didaktischen und methodischen Umsetzungen im Unterricht beraten.

Es geht oftmals erst einmal darum, geeignete Rahmenbedingungen zu schaffen, um die Teilhabe zu ermöglichen. Es gibt so viele Barrieren, die zu beseitigen sind. Oftmals scheitern unsere Schülerinnen und Schüler schon daran, dass am Schuleingang zwei Stufen sind. Deshalb gehen wir schon frühzeitig mit dem Kind und dessen Eltern an die zukünftige Schule, um zu sehen, wie die Bedingungen vor Ort sind. Wir schauen zum Beispiel, ob es ein Behinderten-WC gibt, ob der Klassenraum gut zu erreichen ist, ob der Sitzplatz passt. Manchmal passt ein Rollstuhl gar nicht unter einen normalen Tisch. Es geht also viel um räumliche Zugänge. Aber auch die Zugänge zu den Inhalten müssen geprüft werden. Wir haben Jugendliche, die erfolgreich ein Gymnasium besuchen, aber körperlich eben nicht die Möglichkeit haben, ein Arbeitsblatt auszufüllen oder ihre Aufgaben in ein Heft zu schreiben. Es gibt zwar oft digitale Medien, aber diese sind nicht unmittelbar nutzbar und müssen erst entsprechend aufbereitet werden. Häufig spielt auch der Zeitfaktor eine große Rolle, denn die betroffenen Schülerinnen und Schüler brauchen einfach länger zum Schreiben, zum Herrichten ihrer Materialien, zum Aufschlagen eines Buches usw. Das ist bei Klassenarbeiten ein großes Problem.

Alle Maßnahmen, die ergriffen werden müssen, um diese Barrieren zu überwinden, sind Teil des sogenannten Nachteilsausgleichs. Für ein Kind, das an einer allgemeinbildenden Schule unterrichtet wird, müssen die Nachteile, die ihm entstehen, ausgeglichen werden. Es muss also zum Beispiel mehr Zeit zur Verfügung gestellt werden, ggf. ein Gerät angeschafft, eine Assistenzkraft eingestellt werden usw. Diese Maßnahmen müssen von der allgemeinbildenden Schule dokumentiert werden. Auch dabei unterstützen wir im Sonderpädagogischen Dienst.

Die Lehrkräfte an den allgemeinen Schulen sind sicher sehr dankbar für Ihr Angebot.

Meistens schon. Früher war man tatsächlich oft nicht willkommen, weil die Schulen noch nicht so offen für unsere Unterstützung waren. Das ist inzwischen anders, die Haltung hat sich tatsächlich in den letzten Jahren sehr geändert.

Wissen um Inklusion muss in der Ausbildung allgemeinbildender Lehrkräfte verankert werden

Aus Ihrer persönlichen Erfahrung heraus: Wie hat sich der Unterricht für körperlich-motorisch beeinträchtigte Kinder und Jugendliche in den letzten Jahren verändert?

Man achtet mehr auf Teilhabe und natürlich hat auch der Fortschritt der Technik viel gebracht. Es gibt deutlich mehr Möglichkeiten, um Nachteile auszugleichen und es ist selbstverständlicher geworden, das auch zu tun. Auch durch die Corona-Pandemie hat sich noch einiges getan: Das Wissen um Medien und Hilfsmittel ist weiterverbreitet und digitales Arbeiten selbstverständlicher.

Wie könnte oder sollte die zukünftige Entwicklung aussehen?

Neben der architektonischen Barrierefreiheit muss die digitale Barrierefreiheit verbessert werden. Inhalte auf Webseiten oder digitale Lernangebote müssen für unsere Schülerinnen und Schüler ansteuerbar und nutzbar sein. Wichtig wäre außerdem, dass die Inklusion und das Wissen darum schon in der Ausbildung der allgemeinbildenden Lehrkräfte stärker verankert wird. Zum Beispiel sollten Lehrkräfte den Nachteilsausgleich kennen und wissen, dass es unseren Sonderpädagogischen Dienst gibt – das ist nicht immer bekannt.

Vielen Dank für das Gespräch, Frau Fuchs.

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