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Neue Sichtbarkeit des Rechtsextremismus in der Coronapandemie

Der Vorwurf der „Lügenpresse“, die Warnung vor einer „neuen Weltordnung“ durch das Coronavirus, der „Sturm“ auf den Reichstag oder der Einsatz der Reichsflagge bei Protesten gegen die Corona-Politik der Bundesregierung: Rechtsextreme Narrative und Symbole sind während der COVID-19-Pandemie präsenter denn je. Gleichzeitig demonstrieren zahlreiche Menschen auf sogenannten Querdenken-Demos „aus Sorge um ihre Freiheitsrechte“ unkritisch Seite an Seite mit Rechtsextremen.

Zwar ist legitime Kritik an den staatlichen Schutzmaßnahmen gegen die Pandemie erlaubt – und auch im Sinne eines demokratischen Diskurses erwünscht. Doch die oben geschilderten Entwicklungen deuten darauf hin, dass rechtsextremes Gedankengut in unserer Gesellschaft heute wieder verstärkt auf dem Vormarsch ist und zu einem gewissen Grad toleriert wird. Als Folge ist eine zunehmende gesellschaftliche Spaltung nicht ausgeschlossen.

Wütender Mann mit erhobener Faust

Drazen Zigic via Getty Images

Die Entwicklung des Extremismus in der BRD

Extremismus war und ist in Deutschland ein andauernd relevantes Thema. Die 1970er-Jahre etwa waren von den linksextremistischen Aktivitäten der Roten Armee Fraktion (RAF) geprägt. Weiterhin begleiteten linksextreme Proteste und Ausschreitungen beispielsweise die G20-Gipfel in Heiligendamm im Jahr 2007 oder in Hamburg im Jahr 2017.

Die frühen 1990er-Jahre waren hingegen vor allem in den neuen Bundesländern überschattet von gewalttätigen rechtsextremen Anschlägen auf Asylbewerber/-innen und Gastarbeiter/-innen. Die NSU-Mordserie von 2000 bis 2006, die Vielzahl an Übergriffen auf Geflüchtete seit 2015 sowie die Etablierung der „Alternative für Deutschland“ (AfD) in der deutschen Parteienlandschaft verdeutlichen weiterhin, dass rechtsextreme Ideologien und Strukturen eine dauerhafte Facette der deutschen Gesellschaft darstellen (siehe Leipziger Autoritarismus-Studie). Davon zeugen auch die rechtsextremen und antisemitischen Anschläge der jüngeren Vergangenheit wie der Mord an Walter Lübcke (2019), die Schüsse auf die Synagoge in Halle (2019) sowie der Terrorakt gegenüber Menschen mit Migrationsgeschichte in Hanau (2020). Parallel dazu treten Rechtsextreme immer stärker im Internet in Erscheinung und nutzen die digitalen Kommunikationsformen zur Verbreitung ihrer Propaganda.

In den letzten beiden Jahrzehnten wuchs zudem die Sorge um das Erstarken einer gewaltbereiten islamistischen Szene. Anlass dafür boten Attentate im In- und Ausland wie der Anschlag auf den Weihnachtsmarkt am Berliner Breitscheidplatz (2016) oder das Attentat auf den Pariser Club Bataclan (2015). Neben der gezielten Rekrutierung von Deutschen als Kämpfer/-innen für die Terrororganisation „Islamischer Staat“ (IS) deuten darauf auch Manipulationsversuche im Internet hin, die dem islamistischen Extremismus zuzuordnen sind.

Was ist Extremismus?

Extremismus ist zunächst ein Sammelbegriff für verschiedene antidemokratische Ideologien und Bewegungen. Auf einer allgemeinen Ebene versteht man darunter die Ablehnung von Pluralismus, der deutschen Verfassung, ihrer Grundwerte und Verfahrensregeln. Diese Ablehnung geht einher mit „Bestrebungen zur Systemüberwindung […] auch unter Anwendung von Gewalt“. Ziel ist die Errichtung eines autoritären Staates im Sinne der jeweiligen Ideologie oder die vollständige Überwindung staatlicher Strukturen im Sinne einer Anarchie.

Es muss jedoch an dieser Stelle angemerkt werden, dass der Begriff „Extremismus“ und seine konkrete Definition nicht unumstritten sind (siehe dazu auch die Debatte um die Extremismustheorie bei der bpb). Der Politikwissenschaftler Richard Stöss etwa argumentiert, dass das sozialwissenschaftliche Konzept „Extremismus“ als Gegenteil von Demokratie verstehen würde und so unterschlage, dass extremistische Einstellungen auch innerhalb einer demokratischen Gesellschaft bestünden. Außerdem leiste die Extremismustheorie der sogenannten „Hufeisentheorie“ Vorschub, welche Links- und Rechtextremismus als gleichwertig gegenüberstelle.

Jugendliche und junge Erwachsene als beliebte Zielgruppe extremistischer Ideologien

Ein beliebtes Ziel extremistischer Annäherungsversuche sind Jugendliche und junge Erwachsene. Sie stellen sich dafür aus unterschiedlichen Gründen als besonders empfänglich dar. So ist anzunehmen, dass das Demokratieverständnis insbesondere im Jugendalter noch relativ ungefestigt vorliegt. Darüber hinaus spielt es für jüngere Altersgruppen eine wichtige Rolle, die eigene Identität zu finden, gesellschaftliche Rollen und Positionen auszuprobieren, eigene Wertmaßstäbe zu entwickeln und Grenzen auszuloten. Diese Entwicklungsaufgaben finden heute auch weitgehend im digitalen Raum statt.

Extremistische Akteurinnen und Akteure bieten vor diesem Hintergrund eine Vielzahl an relevanten Anknüpfungspunkten. Sie greifen Unsicherheiten und Entwicklungsaufgaben junger Menschen auf, indem sie ihre Überzeugungen und eindeutige Wertezuschreibungen als sinnstiftend und identitätsfördernd präsentieren. Sie bieten einfach erscheinende Antworten auf komplexe Fragen. Vorgegebene (Verhaltens-)Regeln, Rollen und Strukturen der extremistischen Gruppe geben Orientierung, Sicherheit und Geborgenheit. Dabei wird der hohe Wert der eigenen Gruppe und damit des eigenen Individuums stets in Abgrenzung zu gesellschaftlichen Feindbildern definiert. Durch die Ablehnung staatlicher Regeln machen Extremistinnen und Extremisten Jugendlichen und jungen Erwachsenen Angebote zur Grenzüberschreitung und Rebellion gegen Autoritäten, wie z.B. Eltern oder „den Mainstream“.

Soziale Medien als wichtige Verbreitungskanäle extremistischer Narrative

Durch die Wahl sozialer Medien als Verbreitungskanäle ihrer Botschaften nutzen extremistische Akteurinnen und Akteure gezielt Freizeit- und Erfahrungsräume Jugendlicher und junger Erwachsener, um ihnen ihre Ideologie näherzubringen. Soziale Medien dienen in diesen Altersgruppen nicht nur der Unterhaltung und Kommunikation, sondern auch der Erprobung unterschiedlicher Identitäten und sozialer Zugehörigkeiten.

Die Wirkung und Akzeptanz extremistischer Ansprachen hängt aufseiten der Angesprochenen vom Zusammenspiel verschiedener Faktoren ab. Darunter fallen Persönlichkeit, Einstellungen, Vorwissen sowie individuelle Lebensumstände. Weiterhin können Erfahrungen gesellschaftlicher Diskriminierung, Benachteiligung oder Marginalisierung Menschen besonders empfänglich für extremistische Inhalte machen. Gleiches gilt für positive Einstellungen gegenüber Macht, Gewalt und Aggression. Allerdings sollten Personen, die von Rassismus und Ausgrenzung betroffen sind, nicht per se als radikalisierungsgefährdet eingestuft werden. Das Geflecht von Bedingungen, das Personen letztlich anfällig für Radikalisierung macht, ist überaus komplex.

Quellen

[4] Jesse, E. (2019):

Der Extremismusbegriff und seine gesellschaftliche Akzeptanz – die Extremismusforschung hat das Äquidistanzgebot zu achten. Denkströme. Journal der Sächsischen Akademie der Wissenschaften, 21, S. 164-170. zurück nach oben

[5] Jesse, E. (2018):

Grundlagen. In: Jesse, E./Mannewitz, T. (Hrsg., 2018). Extremismusforschung. Handbuch für Wissenschaft und Praxis (S. 23-58). Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung. zurück nach oben

[6] Kemmesies, U. (2006):

Zukunftsaussagen wagen: Zwischen Verstehen und Erklären – Methodologische und theoretische Notizen zur Prognoseforschung im Phänomenbereich Extremismus/Terrorismus. In: Kemmesies, U. (Hrsg., 2006). Terrorismus und Extremismus – der Zukunft auf der Spur. Beiträge zur Entwicklungsdynamik von Terrorismus und Extremismus – Möglichkeiten und Grenzen einer prognostischen Empirie (S. 10). München: Wolters Kluwer Deutschland GmbH. zurück nach oben

[7] Jesse, E. (2018):

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[10] Torney-Purta, J. (1992):

Cognitive representations of the international political and economic systems in adolescents. In: Haste, H./Torney-Purta, J. (Hrsg.). The development of political understanding (S. 11-25). San Francisco. zurück nach oben

[11] Davis, K./Weinstein, E. (2017):

Identity Development in the Digital Age: An Eriksonian Perspective. In Wright, M. (Hrsg.). Identity, Sexuality, and Relationships among Emerging Adults in the Digital Age (S. 1-17). Pennsylvania, USA: IGI Global. zurück nach oben

[12] Davis, K./Weinstein, E. (2017):

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[14] Miliopoulus, L. (2017):

Biographische Verläufe im Extremismus: Ein kritischer Blick auf ihre Bedeutung für die Radikalisierungsforschung und die Extremismusprävention. In: Altenhof, R. et al. (Hrsg.). Politischer Extremismus im Vergleich. Beiträge zur politischen Bildung (S. 105-136). Berlin: LIT Verlag. zurück nach oben

[15] Baier, D. et al. (2016):

Einflussfaktoren des politischen Extremismus im Jugendalter. Rechtsextremismus, Linksextremismus und islamischer Extremismus im Vergleich. Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform, 99(3), S. 171-198. zurück nach oben

Dr. Josephine B. Schmitt, Wissenschaftliche Koordinatorin, CAIS

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