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Vom Schulheft zur Videokonferenz: Wie Corona die Schulen digitalisiert – Interview mit Dr. Patrick Bronner

Sascha Schmidt
Porträt von Dr. Patrick Bronner

Interview mit Dr. Patrick Bronner | Foto: Richard Kiefer, Lichtwerkstatt Kirchzarten

Viele Herausforderungen, aber auch viele Chancen

Dass ein analoger Virus die digitale Welt so verändern kann, damit hätte zu Beginn des Jahres vermutlich niemand gerechnet. Und dennoch hatte und hat die Corona-Pandemie große Auswirkungen auf die Schule, allen voran deren Digitalisierung. Dr. Patrick Bronner ist Lehrer in Freiburg und Träger des Deutschen Lehrerpreises 2016 für sein BYOD-Konzept (Bring your own device). Wir haben mit ihm über die vergangenen Monate gesprochen und auch einen Blick auf die Zukunft der digitalen Schule gewagt.

1. Herr Dr. Bronner, die vergangenen Wochen und Monate brachten durch die Pandemie einige Herausforderungen für die Schulen mit sich. Wie würden Sie diese Zeit aus Lehrersicht beschreiben?

Es war eine arbeitsintensive – aber auch aufregende Zeit. Als IT-Administrator der Schule musste ich in enger Zusammenarbeit mit dem Schulleiter viele Fragen klären und Kompromisse finden: Welche digitalen Kommunikationswege (Mail, Chat), Lernplattformen (Nextcloud) und Videokonferenz-Systeme (Webex) können im Fernunterricht eingesetzt werden? Wie verbindlich soll ein schulweit einheitliches Vorgehen mit einer festen Tagesstruktur vorgegeben werden (Wochenplan)? Was wiegt in der Not-Situation mehr: Der Bildungsauftrag mit persönlichem Kontakt oder der Datenschutz (Zoom)? Welche Qualitätskriterien müssen in Videokonferenzen für einen erfolgreichen Lernprozess beachtet werden (vier Gebote)? Wie können sozial benachteiligte Schülerinnen und Schüler persönlich erreicht und lernförderlich begleitet werden (Leih-Tablets)? Dank der guten technischen Ausstattung der Schule und der engen Zusammenarbeit mit dem Kreismedienzentrum Freiburg konnten wir in den ersten Wochen des Lockdowns zu vielen Fragen zufriedenstellende Antworten finden.

2. Was nehmen Sie als Lehrer daraus mit für die kommende Zeit?

Als Lehrer und IT-Administrator hat mich gefreut, dass der Nutzen von digitalen Medien zum zeitgemäßen Lernen durch die Corona-Krise für Schüler/-innen, Eltern und Lehrer offensichtlich wurde. Es hat sich ausgezahlt, dass wir in den letzten Jahren auf ein Medienkonzept zum orts- und zeitunabhängigen Lernen gesetzt haben, bei dem Lehrer- und Schüler-Tablets im Mittelpunkt stehen. Auch die im Klassenzimmer verwendeten Lehr- und Lernkonzepte zur Wirksamkeit (vier Gebote), zur Kompetenzorientierung (4K-Modell) und zur Personalisierung (sieben Dimensionen) des digital angereicherten Unterrichts konnten wir mit wenigen Änderungen erfolgreich auf den Fernunterricht übertragen.
In unseren Tablet-Klassen haben wir bereits am ersten Tag des Lockdowns über den Schul-Chat und der darin enthaltenen Videokonferenz (Nextcloud Talk) synchronen Fernunterricht durchgeführt. Aufgrund der Überlastung des Schulservers mussten wir jedoch kurze Zeit später zu kommerziellen Videokonferenz-Anbietern wechseln.

Trotz der digitalen Euphorie zeigte sich in der Corona-Krise aber auch, dass die pädagogische Reichweite von digitalen Anwendungen Grenzen hat. Das menschliche Miteinander im Klassenzimmer, der Umgang mit Emotionen sowie die Dynamik im Präsenzunterricht lassen sich weder durch Mail-Kontakt, Text-Chat noch durch Videokonferenzen ersetzen. Die soziale Dimension des Unterrichts wird niemals durch ausgeklügelte Algorithmen sowie durch künstliche Intelligenz durchdrungen werden. Digitale Medien sind gut und zielgerichtet eingesetzt als angemessene Hilfsmittel im Lernprozess zu sehen – mehr nicht, aber auch nicht weniger.

Über die Zukunft des Fernunterrichts

3. Stichwort Blended Learning: Wie haben Sie den Wechsel von Präsenz- und Onlineunterricht in der Zeit nach den Pfingstferien gestaltet? 

Um die Unterrichtszeit möglichst sinnvoll und lernförderlich zu nutzen, haben wir in unseren Tablet-Klassen die beiden Schülergruppen im Klassenzimmer und zu Hause in einigen Hauptfächern direkt per Videokonferenz miteinander verbunden. Im Unterricht auf Distanz legten wir neben den frontalen Lehr- und Lernmethoden viel Wert auf wie Kooperation, Feedback und Lerndiagnose. Dazu wurden datenschutzkonforme Apps und Anwendungen wie z.B. minnit BW oder Nextcloud Forms eingesetzt.

In den Naturwissenschaften haben wir zur Vermeidung von frontalen Lernphasen Unterrichtsprojekte in Einzelarbeit z.B. zum Thema „Kräfte bei Brücken“ durchgeführt. Hierbei sind durch die Lernenden zu Hause und in der Schule kreative handwerkliche Produkte entstanden, deren Entstehungsprozess und Belastungsvermögen mit einem Präsentationsvideo dokumentiert werden sollten. Die abgeschlossene Projektarbeit wurde anhand des Videos mit einem transparenten Bewertungsraster benotet. Die Beurteilung hat dabei die letzte Klassenarbeit ersetzt.

4. Welche Herausforderungen brachte bzw. bringt Ihrer Erfahrung nach der Fernunterricht mit sich und wie begegnen Sie diesen?

Zu dieser Frage könnte ich einen ganzen Roman mit einigen Kapiteln schreiben. Zu den Herausforderungen gehören die Didaktik von (Fern-) Unterricht mit digitalen Medien, die Eigenverantwortung im Lernprozess, das Medienkonzept zum zeit- und ortsunabhängigen Lernen, eine kompetenzorientierte sowie personalisierte Aufgaben- und Lernkultur, die Chancen- und Bildungsgerechtigkeit sowie der schüleraktivierende Einsatz von Videokonferenzen. Vieles davon werde ich bei einem öffentlichen Vortrag (als Web-Konferenz) am 16. September 2020 beim Deutschen Lehrkräfteforum thematisieren.

5. Sollte der Fernunterricht von Schulen weiterentwickelt werden? 

Bei einem erneuten regionalen Lockdown darf keine weitere Lernzeit verloren gehen. Es wäre blauäugig, die Zeit verstreichen zu lassen, ohne dass die bestehenden Online-Unterrichtskonzepte mit Eltern, Schüler(-inne)n und Lehrkräften reflektiert, hinterfragt und optimiert werden. So wie jede Schule ein individuelles Hygiene- und Abstandskonzept erarbeiten musste, so sollte auch ein pädagogisches Fernunterrichts-Konzept 2.0 zum Pflichtprogramm einer jeden Schule gehören. Das einheitliche Vorgehen muss Regeln, Rituale und Verbindlichkeiten vorgeben, aber auch pädagogische Freiheiten beinhalten. Als Verbindlichkeit darf der direkte Lehrer-Schüler-Kontakt im Fernunterricht nicht abreißen. So sollten z.B. synchrone Lernphasen mit Videokonferenzen in jedem Hauptfach mindestens einmal wöchentlich zum Standard gehören.

Damit Lehr- und Lernprozesse beim Online-Unterricht von allen Lehrerinnen und Lehrern didaktisch hochwertig und lernförderlich gestaltet werden, müssen entsprechende Lehrerfortbildungen ein fester Bestandteil des Fernunterricht-Konzepts 2.0 sein. Die derzeit oft geforderte Ausstattung der Lehrerinnen und Lehrer mit Endgeräten ist dabei nicht der entscheidende Faktor. Es kommt viel mehr auf die positive Haltung der Lehrenden zum wirkungsvollen digital gestützten Unterricht an.

In einem Schreiben des Kultusministeriums Baden-Württemberg vom 07.07.2020 wurden die Schulen in Baden-Württemberg zudem verpflichtet für den Fall eines erneuten Lockdowns den Fernunterricht anhand von fünf Qualitätskriterien im Vorfeld wirkungsvoll zu organisieren.

Technik und Pädagogik: Ein ewiger Kampf?

6. Wird Corona Ihrer Meinung nach die Mediennutzung an Schulen nachhaltig verändern oder werden wir nach Ende der Pandemie wieder zu gewohnten Routine zurückkehren?

Die Zahl der erworbenen Endgeräte für Lehrende und Lernende schnellt derzeit in die Höhe. Die Stadt Düsseldorf schafft 23.500 Tablets an, in NRW erhalten alle 200.000 Lehrerinnen und Lehrer ein digitales Arbeitsgerät. Bremen erwirbt 100.000 Tablets für alle Schülerinnen und Schüler, Baden-Württemberg stellt den Schulträgern Finanzen für die Anschaffung von über 300.000 Endgeräte zur Verfügung.

Für eine nachhaltige Verwendung der Laptops und Tablets ist eine professionelle Betreuung über eine zentrale Mobilgeräteverwaltung, ein Support-Konzept und die sinnvolle Integration in das Medienkonzept einer jeden Schule zwingend erforderlich. Zur Entlastung der IT-Administratoren sollten durch Schulträger regionale Tablet-Service-Zentren aufgebaut werden. Sehr gute Erfahrungen haben wir zum Thema mit dem Kreismedienzentrum Freiburg gemacht. Dort wird den Schulen bereits seit Jahren eine Tablet-Betreuung mit kompetenter Beratung, vollständiger Erstinstallation, zuverlässiger Mobilgeräteverwaltung und schnellem Reparaturservice angeboten.

7. Technik und Pädagogik: Werden die Endgeräte im Unterricht sinnvoll eingesetzt?

Die Erfahrung zeigt, dass viele Kolleginnen und Kollegen das Lehrer-Tablet zunächst nur nutzen, um bekannte und traditionelle Unterrichtstätigkeiten zu digitalisieren. Ein Beispiel ist die Transformation des analogen Mathematik-Übungsheftes hin zu einer digitalen Lernplattform: Das Prinzip zur Lösung einer Aufgabe wird dabei so lange vorgemacht, bis die Schüler/-innen es nachmachen können. Vor hundert Jahren geschah dies durch die Lehrkraft an der Kreidetafel, heute, im digitalen Zeitalter, über adaptive Lernsysteme oder über Erklärvideos und Flipped-Classroom.

Mit digitalen Medien wird derzeit oft nur unsere traditionelle Lernkultur vor allem zum Input oder zur Übung optimiert. Das Potential des digital angereicherten Unterrichts liegt dabei viel mehr in der Förderung und Stärkung von Kompetenzen sowie der Personalisierung des Lernprozesses.

Lehrerinnen und Lehrer benötigen Sicherheit im Umgang mit Tablets sowie kreative Ideen für ihre wirkungsvolle, kompetenzorientierte und personalisierte Verwendung. Die Lehrerfortbildung muss daher eine tragende Säule der digitalen Schulentwicklung darstellen.

Vielen Dank für das Interview, Herr Dr. Bronner.

Zur Person und hilfreiche Links

Dr. Patrick Bronner erhielt für den methodisch sinnvollen Einsatz von Smartphones im Klassenzimmer mit dem BYOD-Konzept den Deutschen Lehrerpreis 2016. Er unterrichtet am Friedrich-Gymnasium Freiburg die Fächer Mathematik und Physik, bildet Referendare aus und hält Vorträge sowie Fortbildungen zur zeitgemäßen digitalen Bildung.

Zur Website von Dr. Patrick Bronner

Perspektive Schulentwicklung

Web-Konferenz am 16.09.2020 beim Deutschen Lehrkräfteform:

„Lernen aus Corona: Perspektiven für eine nachhaltige Schulentwicklung“

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Perspektive Kompetenzorientierung

Aufzeichnung der Webkonferenz von #ExcitingEdu:

„Digitale Bildung: Alter Wein in neuen Schläuchen?“

Zum Video

Perspektive Lehrerfortbildung

Die Handouts aller aktuellen Vorträge und Fortbildungen sind online als PDF verfügbar.

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Perspektive Medienkonzept

Vorschlag zu einem praxiserprobten einheitlichen Medienkonzept für Schulen / Schulträger zum orts- und zeitunabhängigen Lernen

Zur Website

Sascha Schmidt

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